Das Mutationsgeschehen bleibt dynamisch

Virus-Mutante B1.1.7 in Österreich:
Im Dunkeln sieht man nicht. Dr. Andreas Bergthaler erläutert, warum der Ausbau der Sequenzier-Kapazitäten wichtig ist.

 

Das Mutationsgeschehen bleibt dynamisch

„Das Virus mutiert ständig. Das wissen wir, und das ist per se noch kein Grund zur Beunruhigung“, betont Dr. Andreas Bergthaler, CEMM. „Aber das Besondere bei der britischen und auch bei der südafrikanischen Variante ist nun, dass viele Mutationen gleichzeitig vorliegen. Das hatten wir bis dato nicht.“ Mit der neuen, in Großbritannien erstmals im September aufgetretenen Virus-Mutante B1.1.7 ist eine Virus-Variante entstanden, die aufgrund ihrer Mutationen im Bereich der Rezeptorbindungsstelle um 56% infektiöser ist als die bisherige Variante.

Entscheidend für alle Fragen in der Bewältigung der Pandemie ist es primär zu wissen, welche Mutationen entstehen und welche Virus-Varianten zirkulieren. Andreas Bergthaler: „Um Mutationen detektieren zu können, muss das Genom molekulartechnisch sequenziert werden.“ – Ein aufwändiger Prozess, der viel Expertise und auch Infrastruktur benötigt.

„Den Lichtkegel vergrößern“

Bis zum Wochenende 10.1. wurde die neue britische Variante in Österreich in vier Fällen, die südafrikanische Mutante in einem Fall detektiert. Am 12.1. wurden weitere Fälle publik. Ob die neue Variante aber tatsächlich nur für diese Fälle in Österreich verantwortlich zeichnet, ist damit nicht gesagt. – Und auch nicht, ob nicht auch Viren mit noch ganz anderen Mutationen zirkulieren. Denn im Finstern sieht man nicht …

Bergthaler zitiert in diesem Zusammenhang Bundesminister Anschober, der die Situation mit einer düsteren Scheune und dem Lichtkegel einer Taschenlampe verglichen hatte. Es brauche eine starke Lampe, um den Kegel kontinuierlich zu erweitern, und damit zu verstehen, womit wir es zu tun haben.

Mutante auch in Österreich – ein Weckruf!

Für Bergthaler muss daher das Auftreten der mutierten Virusvarianten ein Weckruf sein: einerseits um die Hygienemaßnahmen – die kein High-Tech-Mittel, aber essenziell sind – durchzuführen und andererseits die Sequenzier-Kapazitäten auszuweiten. „Die Situation ist dynamisch und es werden vermutlich neue Mutanten auftauchen.“ Wir können nur dort sehen, wo wir mit der Taschenlampe hinleuchten, das bedeutet: wo auch sequenziert wird.

Internationaler Überblick über Mutationen und zirkulierende Viren

Entscheidend ist hier neben ausreichenden Kapazitäten im Sequenzieren auch der internationale Austausch. Sobald Daten vorliegen, werden sie in Datenbanken hochgeladen und international zur Verfügung gestellt, um das Pandemiegeschehen besser verstehen zu lernen. In großen internationalen Datenbanken sind weltweit bereits mehrere 100.000 Genome von SARS-CoV-2-Viren erfasst.
Im Hinblick auf Kapazitäten verweist Bergthaler auf Länder wie England und Dänemark, die derzeit „die Europameister im Sequenzieren“ sind und in denen neu auftretende Virus-Varianten daher relativ rasch nachgewiesen werden können. Im Gegensatz dazu gebe es andere Länder, wie etwa in Ost-Europa, wo die Kapazitäten für solche Methoden nicht ausreichend verfügbar sind und daher sehr wenig sequenziert wird. „Wir werden daher auch nicht wissen, was dort zirkuliert. Die Wahrscheinlichkeit ist hoch, dass es auch dort schon unterschiedliche Varianten gibt.“

Wo steht Österreich?

In Österreich wurde im Februar 2020 zunächst eine akademische Initiative ausgehend vom CeMM gestartet und dann gemeinsam mit verschiedenen Partnern, insbesondere der AGES und der MedUni Wien, eine Pipeline aufgebaut, um Mutationen identifizieren zu können.
Anfang April wurden die ersten SARS-CoV-2 Virusgenome in Österreich sequenziert und publiziert. „Mittlerweile stehen wir bei über 1.300 Genomen“, sagt Bergthaler. Davon wurden allein insgesamt knapp 550 Genome seit September, also seit Auftreten der englischen Variante, sequenziert.

1.300 Genome – ist das viel oder wenig?

„Das ist eine Frage der Perspektive“, sagt Bergthaler. Im Vergleich zu England oder Dänemark sei noch viel Spielraum nach oben. „Wir sind im guten Mittelfeld und versuchen gerade, uns nach der Decke zu strecken.“ Wie auch seitens des Bundesministers unterstrichen wird, sollen die Sequenzier-Kapazitäten massiv ausgeweitet werden.

Um einen repräsentativen Überblick über das Mutationsgeschehen bei zirkulierenden Viren zu erhalten, ist es jedoch nicht nur entscheidend, wie viele Proben analysiert werden. „Es geht nicht nur um die Anzahl der Proben, sondern auch darum, WELCHE Proben sequenziert werden“, erläutert Bergthaler.

Woher kommen die Proben, die in Österreich sequenziert werden:

  • Erstens wird auf Proben des diagnostischen Frühwarnsystems zurückgegriffen. Das ist das von Doz. Monika Redlberger-Fritz aufgebaute Sentinel Influenza-Netzwerk, für das viele niedergelassene Ärzte in ganz Österreich bei Personen mit Erkältungssymptomen Abstrichproben nehmen und zur Untersuchung einschicken, und in dessen Rahmen seit Februar 2020 neben Influenza- auch auf SARS-CoV-2-Viren untersucht wird.
  • Zweitens werden von der AGES gezielt Proben von Clustern (wie etwa bei Ausbrüchen in Altersheimen oder Kindergärten etc.) übermittelt.
  • Drittens werden auch Proben aus Kläranlagen analysiert. Da es sich um „gepoolte“ Proben handelt, ist die Methode zwar nicht so sensitiv wie eine Einzeltestung. „Sie kann uns aber einen Einblick in das globale Geschehen in Österreich geben“, sagt Bergthaler.

Pre-Screening mit PCR. Im Aufbau sind auch sogenannte Pre-Screenings, wo mit PCR zunächst nach ganz gezielten Mutationen gesucht wird. „Das geht wesentlich schneller“, sagt Bergthaler. Im Anschluss daran werden nur die im Pre-Screening positiven Proben, die damit auch eine höhere Wahrscheinlichkeit für die gesuchte neue englische Virus-Variante haben, sequenziert. „Das erhöht die Wahrscheinlichkeit, diese Variante zu finden.“

B1.1.7 – ein Grund zur Angst?

Es bestehe kein Grund zur Panik, so Bergtaler, zeige aber, dass die Situation dynamisch bleibe und wir sie daher auch weiterhin ernst nehmen müssten. „Wir sehen, dass diese Veränderungen die Transmissionsfähigkeit des Virus beeinflussen“, Bergthaler rechnet daher auch mit weiteren Veränderungen. Ein laufend neuer Wissensstand bedinge auch die Herausforderungen in der Kommunikation: Man könne sich nie auf der Vergangenheit ausruhen.

Text: Susanne Hinger

.

Links:

Ce–M–M– Research Center for Molecular Medicine of the Austrian Academy of Sciences
GISAID (Global Initiative on Sharing All Influenza Data) ist eine weltweilte Wissenschaftsinitiative, die freien Zugang zu Genomdaten von Influenza- undSARS-CoV-2-Viren ermöglicht.
Nextstrain ist eine open-source Genom-Datenbank, die ein Echtzeit-Tracking von genetischen Virus-Veränderungen ermöglicht, https://nextstrain.org/
Mutational Dynamics of SARS-CoV-2 in Austria, Overview, backgrounds and updates about SARS-CoV-2 genome sequencing in Austria, is an initiative of the Research Center for Molecular Medicine of the Austrian Academy of Sciences.