Fragen zu Mortalität und Risikofaktoren

Welche Erklärungen gibt es für die Mortalitätsunterschiede zwischen China und Italien? Was weiß man über die Risikofaktoren? Wie erklärt sich, dass Kinder seltener erkranken?

 

Zur Mortalität von COVID-19 gibt es sehr unterschiedliche Zahlen. Wie hoch ist das Risiko für einen Menschen, wenn er infiziert ist, daran zu versterben, und wie hoch ist das Risiko, wenn er intensivpflichtig ist, daran zu versterben?
Die solidesten Daten sind bislang aus China verfügbar. Hier muss man zwischen Daten aus Wuhan und Hubei, der primär betroffenen Provinz, und Daten aus Peking, Shanghai und anderen Regionen unterscheiden. In Hubei liegt die Mortalität bei ungefähr 3% oder etwas höher. In den anderen Regionen bei etwa 1%, das heißt um zwei Drittel niedriger als in Hubei.
Die Daten aus Hubei zeigen, dass der Aufenthalt auf der Intensivstation mit einem schlechten Outcome assoziiert war, möglicherweise weil die Leute auch erst sehr spät dorthin kamen. Von Patienten, die in Hubei auf der Intensivstation waren, sind in der ersten Woche etwa 50% gestorben. In Peking war das anders. Es war der Outcome auf der Intensivstation besser und es waren deutlich weniger, die eine Intensivstation gebraucht haben.

Wie kann man sich das erklären?
Es scheint so zu sein, dass bei Patienten, die erst sehr spät mit schon weit fortgeschrittenem Krankheitsverlauf ins Krankenhaus kommen, der Anteil jener, die intensivmedizinisch betreut werden müssen, und auch deren Mortalität höher ist. Die Situation dürfte auch in Italien ähnlich sein. Entsprechend den Daten von ECDC mit 1.800 Toten bei ungefähr 24.000 Fällen bedeutet das eine Mortalität von etwa 7,5%, das ist sehr hoch. In Frankreich liegt die Mortalität bei ungefähr 2%, und in Deutschland sind es bei 4.800 Fällen bisher 12 Tote, was in etwa 0,3% entspricht. Aus jetziger Sicht ist zu erhoffen, dass in Deutschland und Österreich die Mortalität bei symptomatischen Patienten vielleicht um 1% oder niedriger bleibt, wenn schwerer erkrankte Patienten rechtzeitig hospitalisiert und behandelt werden und es vor allem gelingt, die Risikogruppen vor Infektionen zu schützen. Italien wurde hier von der Situation „überfahren“, wahrscheinlich waren schon Zehntausende und vor allem Risikopatienten und auch MitarbeiterInnen im Gesundheitswesen infiziert, als alles evident wurde und mit einem Schlag waren sehr viele Schwerkranke auch intensivmedizinisch zu versorgen.

Kann es sein, dass wir derzeit in Ländern mit niedriger Mortalität noch Frühinfektionen bei eher Jüngeren haben und derzeit die Mortalität nur nachhinkt und die Steigerung noch kommt?
Das ist etwas, das wir nicht wissen. Aber es ist zu hoffen, dass einerseits durch die Barrieremaßnahmen, die getroffen wurden, und andererseits durch die gesteigerte Awareness Infizierte früher erkannt werden. Die Zahlen werden auch bei uns, im Speziellen in Tirol, wo die Infektion schon weiter verbreitet ist, sicher noch weiter nach oben gehen. Das Problem wird auftreten, wenn es nicht primär die junge Bevölkerung betrifft, sondern auch ältere und vulnerablere Patienten erkrankt sind, die dann auch das entsprechende Risiko für einen schwereren Verlauf haben, und damit auch letztendlich für einen schlechten Ausgang dieser Erkrankung.

Gibt es schon Daten zum Risiko von Patienten, die in irgendeiner Form mit prinzipiell immunsuppressiven Substanzen behandelt werden, wie beispielsweise rheumatische Patienten?
Letztendlich geht man davon aus, dass alle, die ein schlechteres Immunsystem oder Komorbiditäten haben, ein erhöhtes Infektionsrisiko haben. Prinzipiell erhöht jede Art der Immunsuppression das Risiko für Infektionen, wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß – beispielsweise haben Patienten unter den neuen JAK-Inhibitoren häufiger Virusinfektionen als Patienten unter TNF-Inhibitoren; möglicherweise sind diese also auch anfälliger für diese Infektion. Andererseits besteht aber auch bei rheumatischen Patienten, wenn sie nicht gut behandelt sind, ein höheres Infektionsrisiko, weil sie dann eine gewisse Anergie des Immunsystems haben. Generell sind rheumatische Patienten eine vulnerable Bevölkerungsgruppe, das gilt für Influenza und andere Virusinfektionen und auch für bakterielle Pneumonien. Es ist daher davon auszugehen, dass es bei dieser Infektion nicht anders ist. Einschränkend sei angeführt: Es gibt jedoch noch keine soliden Daten.

Was weiß man über die Risikofaktoren für einen schweren Verlauf?
Aus Daten aus China weiß man: Menschen, die einen schweren Verlauf haben, sind ältere Patienten, Patienten mit Co-Morbiditäten, Männer, und hier Raucher. Rauchen scheint ein Hauptrisikofaktor zu sein für einen schwereren Verlauf mit Lungenbeteiligung. In einer Studie aus Wuhan starben doppelt so viele Männer wie Frauen.

Waren auch doppelt so viele infiziert?
Nein, die Infektionsraten bei Männern und Frauen waren ungefähr 50:50, die Mortalität bei Männern war jedoch doppelt so hoch. Der Hauptrisikofaktor war Rauchen. Offenbar rauchen in China viel mehr Männer als Frauen. Rauchen dürfte sogar eine größere Rolle spielen als ein Diabetes oder eine Niereninsuffizienz.

Ist das Alter per se ein Risikofaktor für einen letalen Ausgang?
Das Durchschnittsalter bei den chinesischen Verstorbenen liegt bei etwa 70 Jahren, bei den italienischen Verstorbenen bei 80 Jahren. Es sind also die alten Patienten, die ein hohes Risiko haben, weil sie einerseits schon ein altersbedingt schlechteres Immunsystem und zweitens häufig Komorbiditäten wie COPD, Herzinsuffizienz, Diabetes mellitus, chronische Niereninsuffizienz haben. Hypertension gilt als ein weiterer Risikofaktor, wobei hier nicht ganz klar ist, wie diese im Zusammenhang steht und ob hier ein Link zu einem Eintrittsprotein für Viren in Zellen, dem ACE-2, besteht.

Und wie erklärt sich, dass Kinder seltener erkranken?
Das kann man nur vermuten. Es gibt zwei Theorien, wobei sie wissenschaftlich nicht validiert sind. Das Virus braucht einen zellulären Rezeptor, um ans Epithel anzudocken und Proteasen, um dann einzudringen. Theorie 1 geht davon aus, dass bei Kindern diese Andockstationen vielleicht noch weniger ausgeprägt sind. Vor allem bei Kindern im Alter von 0 bis 9 ist die Erkrankung eine absolute Rarität. Die zweite Möglichkeit könnte sein, dass andere Coronaviren, die es ja bei uns auch – wie Rhinoviren, RSV und Influenza – während der kalten Jahreszeit gibt, vielleicht bei Kindern mehr rotieren und bei Kindern damit eher eine Immunität gegen diese Viren vorliegt. Das erscheint mir jedoch unwahrscheinlich, da Coronaviren-Infektionen bei uns keine flächendeckenden Infektionen sind. Die erste Version erscheint mir also wahrscheinlicher. Ich denke, dass es am ehesten mit der Rezeptorausprägung und dem Andocken des Virus am Rezeptor zu tun hat.

Eine wissenschaftliche Theorie geht von einer Überreaktion des Immunsystems aus, die für schwere Verläufe und damit letztlich auch letale Verläufe verantwortlich sein könnte.
Diese Theorie kommt von der spanischen Grippe, bei der Virulenzfaktoren bekannt sind, die das Immunsystem überreagieren ließen, sodass damals vor allem jene gestorben sind, die das beste Immunsystem haben, die 20 bis 35 Jährigen. Aber jetzt sterben ja eher alte Menschen, und das sind die, bei denen das Immunsystem geschwächt ist und nicht überreagiert.

Vielen Dank für das Gespräch
Das Interview wurde geführt am: 16.3.2020