Interview: „Corona als Frage der Adhärenz“  

Die Frage, ob sich Menschen an Corona-Maßnahmen halten, ist die Gleiche wie jene nach der Therapietreue bei Erkrankungen, sagt der Simulationsexperte Nikolas „Niki“ Popper im Interview mit dem Onlineportal RELATUS.

Die Bundesregierung will Massentests machen. Kann das funktionieren, und was helfen uns die Ergebnisse? Jede Testung ist eine Intervention, die wir setzen. Die Frage ist, wie schlau und effizient setzen wir sie ein. Es ist sicher eine gute Idee zu überlegen, wen man zu welchem Zeitpunkt und wie oft testet. Zum Ausgang einer Welle macht es im Sinne der Reduktion von Infizierten weniger Sinn, weil man absolut gerechnet weniger Infizierte erwischt, da ja auch wenig infiziert sind. Bestimmte Personengruppen über einen längeren Zeitraum zu testen, wäre ein alternativer Ansatz. Oder dort wo regionale Steigerungen zu verzeichnen sind. Wenn man das vernünftig macht, ist aber auch die Frage, was danach passiert. Wir müssen danach trachten, dass die Zahlen unten bleiben und deshalb in jedem Fall weiter konsequent testen, tracen und isolieren (TTI). Wir müssen sehr transparent damit umgehen und Fragen klären: Wie tun wir über Weihnachten und danach? Wenn wir das nicht tun, müssen wir sagen, wie wir mit einer dritten Welle umgehen.

Sie sprechen ein intensives Test-Trace-Isolate-System an? Ja, darüber sind sich eigentlich alle einig und zuletzt war es aufgrund der hohen Zahlen schwer. TTI funktioniert nicht mit einer Hauruckaktion. Man stellt sich das immer leicht vor, es ist aber eine nicht alltägliche Herausforderung. Wenn 4000 bis 5000 Personen positiv getestet werden, ist die Zahl der Dunkelziffer fünfstellig. Die Nachverfolgung ist ein komplexer Prozess – wir haben im Hinblick auf die Kontaktpersonen zumindest einen Faktor von fünf bis zehn. Das ist fast nicht zu schaffen. Um nachhaltig zu agieren, muss man überlegen, wie man testet. Wie gibt man den Menschen auch die Sicherheit, da mit zu machen? Viele Menschen machen nicht mit und nennen keine Kontakte, weil sie wirtschaftlichen und sozialen Druck erleben, wenn sie ein positives Testergebnis haben. Das hat zur jetzigen Situation mitbeigetragen: zu wenig Personal für TTI, mangelnde Digitalisierung und Menschen, die sich mit Informationen zurückhalten.

Wie kann ein Ausweg gelingen? Die Frage ist unter anderem, wie man es schaffen kann in so einer komplizierten Situation, dass Menschen sich beteiligen, die möglicherweise gar nicht betroffen sind. Das ist auch eine Frage der Adhärenz. Warum funktionieren viele Therapien in der Medizin auf Dauer nicht? Wir kennen aus vielen Analysen von Therapien, dass Menschen, die selbst betroffen sind nach gewisser Zeit nicht mehr bereit sind Medikamente zu nehmen oder Übungen zu machen. Wenn etwa die Rückenschmerzen vorbei sind, lassen Übungen nach. All das ist nicht ein Problem der Menschen, sondern des Gesundheitssystems, das noch keine Antworten gefunden hat, die Notwendigkeit der Maßnahmen sinnvoll zu vermitteln. Wir sollten also rauskommen aus der Debatte: „Die sind schuld und machen Party.“

Hat man es verabsäumt im Sommer Lösungen zu suchen? Es ist nicht so einfach, neue Prozesse aufzusetzen, wie man etwa am Tag 50.000 Menschen testen kann. Die Versäumnisse liegen nicht im Jetzt. Wir diskutieren seit Jahren, wie wir mit der Erhebung von Daten im Gesundheitswesen umgehen. Das ist aber nie so in den Medien, wie jetzt. Wir berechnen seit Jahren Auswirkungen von Gesundheitsinterventionen. Das ist nicht neu. Es wird jeden Tag in vielen Bereichen des Gesundheitswesens entschieden, was bezahlt wird und was nicht und welche Maßnahmen grundsätzlich gesetzt werden. Wir leben in einer Welt wo Krebstherapien sechsstellige Kosten produzieren und Psychotherapie für Kinder ein paar hundert Euro. Die Entscheidungsträger legen laufend fest, was bezahlt wird und was nicht, und wer was bekommt. Jetzt erleben wir solche Fragen nur hautnah und live. Die Bewertung von Gesundheitsmaßnahmen ist eine etablierte Wissenschaft, deren Einsatz ausgebaut werden muss.

Das Interview führte Martin Rümmele