Umgang mit Migräne in Zeiten der Covid-19-Pandemie

…wenn der Schmerz keinen Lockdown kennt

Stress ist ein Triggerfaktor für Schmerz Was ist im Umgang mit Migräne in Pandemie-Zeiten zu beachten? Was kann Patienten geraten werden? Die Neurologin Dr. Nadine Vavra hat praxisrelevante Tipps zusammengefasst.

Die Covid-19-Pandemie hat unser aller Leben in vielerlei Hinsicht auf den Kopf gestellt. Die vorgegebenen Beschränkungen bergen ein hohes Belastungspotential in sich, das auch vor Migränepatienten nicht Halt macht. Viele sind aktuell sehr verunsichert und besorgt: Ist mein Arzt noch erreichbar für mich? Wie komme ich zu meinen Rezepten für die Therapie? Besteht aufgrund meiner Migräne ein höheres Infektionsrisiko?

Ich bin Fachärztin für Neurologie und habe mich auf die Behandlung von Kopfschmerzerkrankungen spezialisiert. Dabei ist es mir ein Anliegen, meine Patienten zu begleiten, ihre Fragen ernst zu nehmen und aufzugreifen und mit diesem Artikel ein wenig Licht ins Dunkel zu bringen.

Sind Kopfschmerzen ein Zeichen von Covid-19 oder habe ich als Migränepatient sogar ein höheres Risiko, daran zu erkranken?

Hierbei kann ich grundsätzlich Entwarnung geben. Die Migräne ist zwar vom zeitlichen Verlauf den chronischen Erkrankungen zuzuordnen, die aktuell mit einem erhöhten Krankheitsrisiko assoziiert werden.  Dennoch ist es so, dass die Migräne dabei keinen Risikofaktor darstellt, da sie keinen Einfluss auf das Immunsystem nimmt.

Im Hinblick auf die Virusinfektion werden Kopfschmerzen zwar von Betroffenen häufig als Begleitsymptom genannt, allerdings nicht in einem höheren Ausmaß, als dies generell bei Infektionskrankheiten der Fall ist. Die vorherrschenden Beschwerden sind Fieber, Husten, Gliederschmerzen sowie oftmals ein vorübergehender Verlust des Geruchs- und Geschmacksinns. Treten also lediglich Kopfschmerzen ohne sonstige Begleitsymptome auf, sollte nicht primär an eine Covid-19-Infektion gedacht werden, denn Kopfschmerzen sind dabei nicht im Vordergrund stehend.

Kopfschmerzhäufung durch veränderte Alltagsstrukturen

Um die Ausbreitung des Coronavirus zu reduzieren, wurden Maßnahmen beschlossen, die unser tägliches Leben in vielfältiger Weise beeinflussen. Diese wirken sich auf Menschen mit Kopfschmerzen individuell sehr unterschiedlich aus.

Auffällig ist in den letzten Monaten eine Zunahme der Migränehäufigkeit bei vielen Patienten.

Tagesstruktur. Ein großer Teil liegt hierbei sicher darin begründet, dass etablierte Tagesstrukturen nicht aufrechterhalten werden können. Viele haben auf Homeoffice umgestellt, sodass beispielsweise der tägliche Anfahrtsweg zur Arbeitsstätte wegfällt. Die Zeit wird nun oftmals genutzt, um morgens später aufzustehen, wodurch der Schlaf-Wachrhythmus aus dem Gleichgewicht gerät. Ein zweiter Faktor ist die unregelmäßige Einnahme von Mahlzeiten. Häufig hat man sich am Weg zur Arbeit beim Bäcker Frühstück geholt oder im Büro mit den Kollegen gejausnet. Jetzt setzen sich viele direkt an den PC, essen schnell nebenbei oder vergessen gänzlich auf die morgendliche Nahrungsaufnahme. Zu bedenken gilt es jedoch, dass unser Gehirn zu diesem Zeitpunkt bereits vielfältigen Alltagsreizen ausgesetzt ist und auf Hochtouren arbeitet, aber von außen keine Energiezufuhr erhält. Dies resultiert sehr häufig in einer Migräneattacke im Laufe der ersten Tageshälfte.

Stress als Trigger. Ein ebenso nicht zu vernachlässigender Punkt ist sicherlich bei vielen auch die momentane Mehrfachbelastung durch Homeoffice, Hausarbeit und Kinderbetreuung. Dies führt oftmals zu Stress, und Stress gilt als einer der Haupttriggerfaktoren für Migräne. Manche leiden zudem unter finanziellen Nöten, grübeln, wie sie alle Aufgaben unter einen Hut bekommen sollen, haben Sorge um ihre eigene Gesundheit oder die ihrer Angehörigen. Das alles löst Unsicherheit und Angst aus, was wiederum zu vermehrten Schmerzen führen kann.

Fehlende Ausgleichsmöglichkeiten. Verstärkt werden diese Belastungen noch durch die fehlenden bzw. eingeschränkten Möglichkeiten zur Stressregulation und Ablenkung, durch die Schließung von Fitnesscentern und Freizeiteinrichtungen, sowie den Wegfall von Vereinssport und den oftmals fehlenden Rückzugsmöglichkeiten zuhause. All diese Faktoren erhöhen die Anfälligkeit für Schmerzen.

Ärztliche Unterstützungsmöglichkeiten und Alternativen zum Arztbesuch während der Pandemie

Einige Patienten erreichen zurzeit ihre Ärzte nicht wie gewohnt, fühlen sich dadurch im Stich gelassen und hilflos. Auf der anderen Seite haben viele aber auch Angst Arzt oder ins Krankenhaus zu gehen, aus Sorge sich zu infizieren. Ergänzend dazu ist es momentan auch wichtig, Notaufnahmen und Ambulanzen in Krankenhäusern zu entlasten. Daher ist es aktuell unerlässlich, Schmerzpatienten nicht alleine zu lassen und ihnen die Option zu geben, über andere Wege zu kommunizieren. Ich biete beispielsweise für meine Patienten die Möglichkeit einer telemedizinischen Sprechstunde über Video an. Und obwohl Telemedizin ihre Limitationen hat und beispielsweise keine zielführende neurologische Untersuchung möglich ist, so kann man als behandelnder Arzt dennoch eine Einschätzung treffen, ob ein persönlicher Termin notwendig ist, oder sogar eine Vorstellung im Krankenhaus.

Bekannte Therapie beibehalten. Ferner erachte ich es für sehr wichtig, Patienten darüber aufzuklären, dass bei bereits bekannten Kopfschmerzen verordnete Medikamente eingenommen werden können wie bisher. Viel Unsicherheit gab es in den letzten Monaten in Bezug auf Ibuprofen, wobei es aktuell keine wissenschaftliche Evidenz gibt, die bestätigt, dass dieses Schmerzmittel zu einer Verschlechterung von Covid-19-Symptomen beiträgt. Auch in Bezug auf vorbeugende Migränebehandlungen, insbesondere die GRP-Antikörpertherapie, herrscht Sorge auf Seiten der Patienten. Diese haben jedoch keinen immunologischen Effekt, sodass auch kein erhöhtes Infektionsrisiko oder ein schwerer Verlauf im Falle einer Infektion zu erwarten sind.

Wie kann ich mir selbst als Migränepatient in der aktuellen Lage helfen?

Alle vorbeugenden Maßnahmen, die wir Migränepatienten empfehlen, gelten in Zeiten der aktuellen Krise umso mehr.

Alltagsstruktur. Im Wesentlichen geht es vor allem darum, Strukturen und Alltagsroutine zu bewahren. Die Einnahme regelmäßiger Mahlzeiten sowie ein geregelter Schlaf-Wach-Rhythmus sind hierbei essentiell. Es lohnt sich, auch während des Homeoffice zur gewohnten Zeit aufzustehen und feste Arbeitszeiten einzuteilen.

Licht. Ebenso sollte der Arbeitsplatz zuhause wohl überlegt gewählt werden. Um ständig wechselnde Lichtverhältnisse und damit vermehrte Kopfschmerzen zu vermeiden, ist es beispielsweise für Migränepatienten ratsam, den PC nicht vor einem Fenster zu platzieren.

Auch sollte vorzugsweise tagsüber nicht im Bett gearbeitet sowie abends auf Bildschirme und Handys im Bett verzichtet werden, da das blaue Licht negative Auswirkungen auf den Schlaf haben kann.

Planung und Freizeit. Darüber hinaus kann es sehr nützlich sein, die Woche im Vorfeld zu planen und Aufgaben zu verteilen. Man kann sich beispielsweise ausmachen, wer wann für den Haushalt zuständig ist, wer einkaufen geht oder wer den Kindern bei der Aufgabe hilft. Dies hat zur Folge, dass man die Arbeiten auf einzelne Tage verteilen kann, um nicht am Wochenende alles auf einmal erledigen zu müssen. Organisation ist ein essentieller Teil einer stressfreien Routine und das Migränegehirn braucht Regelmäßigkeit und Struktur, um Überreizung zu vermeiden.

Muskelentspannung.  Genauso wesentlich ist es jedoch auch, Anspannungen abzubauen und Körper und Psyche zu stärken. Hierzu könnte man die morgendlich gewonnene Zeit nutzen, um Sport zu machen, bzw. zumindest eine kleine Runde spazieren zu gehen, ausgiebig zu frühstücken oder progressive Muskelentspannung nach Jacobson zu erlernen.  All das wirkt sich positiv auf die Migränehäufigkeit aus.

Auch entfallen durch das Arbeiten zu Hause bei manchen Migränepatienten eventuell Triggerfaktoren am Arbeitsplatz, wie Hintergrundlärm in Großraumbüros, grelles Licht oder wenig frei einteilbare Pausenmöglichkeiten.

In Summe wirken sich also die momentan veränderten Lebensbedingungen bei Migränepatienten individuell ganz unterschiedlich aus. Pflegen wir jedoch vor allem in krisenhaften Zeiten eine gute Arzt-Patient-Beziehung, so können aktuelle Veränderungen positiv für die spätere Krankheitsbewältigung genutzt werden.