Interview: Riechstörungen – wenn etwas Wichtiges fehlt

Der Geruchssinn des Menschen ist besser ausgeprägt als vielfach angenommen. Ist er gestört, hat das massive Auswirkungen auf Lebensqualität und Gesundheit, wie Assoc. Prof. PD Dr. Christian A. Müller, Facharzt für Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde, erklärt. Neues gibt es im Bereich der Therapie.

IM FOKUS: Herr Prof. Müller, neuen Forschungsergebnissen zufolge ist der menschliche Geruchssinn besser entwickelt als früher angenommen. Können Sie diese Erkenntnisse erläutern?

Müller: Die in vielen Köpfen verankerte Idee, dass Menschen im Vergleich zu anderen Säugetieren einen schlechten Geruchssinn haben, wird in einem 2017 in der Fachzeitschrift Science erschienenen Review1 als „Mythos des 19. Jahrhunderts“ bezeichnet. Der Irrglaube basiert nicht etwa auf empirischen Studien zum menschlichen Geruchssinn, sondern auf der Hypothese eines französischen Anatomen des 19. Jahrhunderts (Paul Broca): Er stellte fest, dass beim Menschen das Riechzentrum im Gehirn relativ gesehen kleiner ist als etwa bei Mäusen und folgerte daraus, der menschliche Geruchssinn sei unterentwickelt. Die Reduktion der proportionalen Größe des Riechkolbens des Gehirns erachtete er als notwendig für die Entwicklung des freien Willens. Der Mensch als „hochentwickeltes Tier“ hat eben keinen ausgeprägten Geruchssinn mehr – das wurde lange Zeit so hingenommen. Heute weiß man, dass der menschliche Riechkolben eine ähnliche Anzahl von Neuronen aufweist wie der von anderen Säugetieren und dass der Mensch über ein exzellentes Riechvermögen verfügt: Wir können ein breites Spektrum an Gerüchen wahrnehmen und unterscheiden, für manche Duftstoffe sind wir sogar empfindlicher als eine Maus. Wir können einer Duftspur folgen – ähnlich wie ein Spürhund. Und natürlich beeinflusst unser Geruchssinn Verhalten und Gefühle. Der Mensch hat eigentlich einen hochentwickelten Geruchssinn.

Welche Bedeutung hat der Geruchssinn für Lebensqualität/Gesundheit/Sicherheit?

Die orthonasale Geruchswahrnehmung dient dem Menschen in erster Linie als Warnsignal: Wir riechen Rauch, Gas oder auch verdorbene Lebensmittel und können so Gefahren erkennen und abwenden. Bei Patienten mit Riechstörungen sind „cooking-related hazards“ etwa doppelt so häufig wie in der Normalbevölkerung.

Beim Essen spielt die retronasale Wahrnehmung, sprich die Sinneswahrnehmung über den Nasen-Rachen-Raum, eine wichtige Rolle. Die beim Verzehr von Speisen und Getränken freigesetzten Aromen kommen von „hinten“ – also vom Rachenraum – in die Nasenhöhle, wo es zu einer Erregung der Riechschleimhaut durch die Duftstoffe kommt. Die Wahrnehmung durch Geschmacksrezeptoren im Mund beschränkt sich bekanntlich auf die Geschmacksqualitäten süß, sauer, salzig, bitter und umami, der Großteil der Sinneseindrücke bei der Nahrungsaufnahme sind also Geruchswahrnehmungen. Man kann also sagen: Was wir im Mund schmecken, ist eine reine Illusion! Das kann man einfach, aber eindrucksvoll selbst testen: Lutscht man mit zugehaltener Nase ein Erdbeer- oder Zitronenbonbon, so wird man lediglich feststellen können, dass es süß oder sauer ist, die Sorte wird man nicht erkennen. Das ändert sich sofort, wenn man die Nase öffnet und ein Luftaustausch stattfinden kann. Da ist mit einem Mal der gesamte Feingeschmack da.

Auch bei zwischenmenschlichen und sozialen Beziehungen spielt sich vieles – häufig unbewusst – über den Geruchssinn ab. In einem Experiment sollten die Teilnehmer aus einer Reihe von Schweißproben den für sie attraktivsten Geruch auswählen. Die Wahl fiel dabei auf Probanden mit besonders unterschiedlicher genetischer Ausstattung – ein wichtiger Faktor für gesunde, starke Nachkommen, den man sozusagen erschnüffeln kann.

Die Bedeutung des Geruchssinns wird häufig erst erkannt, wenn er verloren geht. So meinte einer meiner Patienten, in der Natur zu sein – im Wald oder auf einer Blumenwiese –, ohne etwas riechen zu können, sei so, als sehe man sich einen Film im Fernsehen an. Es fehle einem einfach etwas.

Wie häufig sind Riechstörungen?

Unterschiedliche Studien kommen zu sehr ähnlichen Ergebnissen: Bis zu 5 % der Gesamtbevölkerung sind funktionell anosmisch, d. h. sie riechen so gut wie nichts. Weitere 15 % haben ein eingeschränktes Riechvermögen. Insgesamt hat also einer von 5 Menschen einen im Vergleich zu Normdaten schlechteren Geruchssinn. Zwar nehmen Riechstörungen mit dem Alter zu, kommen aber durchaus auch bei jungen Patienten vor.

Was sind die häufigsten Ursachen für Riechstörungen?

In seltenen Fällen können Riechstörungen angeboren sein, ein Beispiel ist das sogenannte Kallmann-Syndrom.

Wesentlich häufiger sind die erworbenen Riechstörungen, wo wir – je nach Ursache – 3 Hauptgruppen unterscheiden: (1) Sinunasale Riechstörungen: Hier wird die eingeatmete Luft auf ihrem Weg zur Riechschleimhaut behindert – damit können Duftstoffe auch keine Geruchswahrnehmung auslösen. In diese Gruppe fallen anatomische Ursachen wie Nasenpolypen oder eine Verkrümmung der Nasenscheidewand, aber auch nichtanatomische Ursachen wie Schwellungen der Schleimhäute der Nase oder Nebenhöhlen infolge von chronischer Sinusitis, Allergien et cetera. (2) Traumen: Häufige Auslöser von nichtsinunasalen Riechstörungen sind Schädelverletzungen durch einen Schlag auf den Kopf oder Sturz. Infolge solcher Schädelhirntraumata können Riechnerven ganz oder teilweise abreißen. Ebenso kann es zu Quetschungen und Blutungen im Bereich des Gehirns kommen, die für die Wahrnehmung und Verarbeitung von Geruchsreizen verantwortlich sind. (3) Virusinfektionen: Viral bedingte Infektionen der oberen Atemwege wie Influenza oder – jetzt in aller Munde – COVID-19 können sich ebenfalls hinter einer Riechstörung verbergen. Die Riechnerven können durch die Infektion geschädigt oder gar zerstört werden. Riechstörungen nach einer Vireninfektion gehen meist mit einer veränderten Geruchswahrnehmung (Parosmie) einher, in gut einem Drittel der Fälle kommt es innerhalb eines halben Jahres zu einer Besserung.

Seltenere Ursachen für erworbene Riechstörungen sind neurodegenerative Erkrankungen wie Morbus Parkinson oder Alzheimer. Riechstörungen zählen hier zu den Frühsymptomen, werden von den Patienten aber oftmals nicht erkannt, da sie schleichend einsetzen. Auch verschiedene internistische Erkrankungen, Gift- und Schadstoffe sowie Medikamentennebenwirkungen können Riechstörungen nach sich ziehen.

Welche Therapieoptionen gibt es?

Die Art der Therapie hängt von der Ursache der Riechstörung ab. Am Beginn der Abklärung steht eine umfassende Anamnese, welche Beginn, Verlauf und Qualität der Riechstörung erfasst – ebenso wie die Krankheits- und Medikamentenanamnese. Anschließend ist eine HNO-ärztliche Untersuchung inklusive Endoskopie der Nase angezeigt. Sind endoskopisch keine Auffälligkeiten in der Nasenhöhle feststellbar, können weitere bildgebende Maßnahmen wie CT oder MRT zur Abklärung notwendig sein.

Liegt der Riechstörung eine klassische Allergie oder Sinusitis zugrunde, wird eine medikamentöse Therapie initiiert – bei chronischer Sinusitis mit Nasenpolypen (CRSwNP) kommt auch eine chirurgische Sanierung der Nasenhöhlen in Frage. Bei auf Typ-2-Inflammation beruhender CRSwNP stellen Biologika eine relativ neue und sehr effektive Therapieoption dar. Bereits zugelassen sind Antikörper gegen Immunglobulin E sowie gegen Interleukin-(IL-)4/-13, noch in klinischer Erprobung sind Antikörper gegen IL-5.

Biologika zeigen generell gute Wirksamkeit bei Patienten mit dem Hauptsymptom Riechstörung – auch wenn keine Polypen vorhanden sind. Im Bereich der Riechspalte – ein sehr schmaler Raum im Bereich der oberen und mittleren Muschel – kann schon eine geringe Entzündung und Schwellung zu einer massiven Beeinträchtigung des Riechvermögens führen. Die klassische Therapieoption wäre hier Kortison, lokal oder systemisch. Eine zukünftige Option könnten Biologika sein, die in dieser Indikation gut wirken, allerdings noch nicht zugelassen sind.

Wie zugänglich sind die neuen Biologika-Therapien für HNO-Patienten in Österreich?

In der Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde sind biologische Arzneimittel noch eher neu, aber sie sind unter den HNO-Ärzten schon sehr bekannt. Manche Kollegen im niedergelassenen Bereich sind noch etwas zögerlich bei der Verschreibung dieser immunmodulierenden Medikamente und überweisen in Frage kommende Patienten zur Einleitung der Biologika-Therapie lieber an eine Klinik oder ein Spezialzentrum. Ist die Therapie einmal etabliert, kann der niedergelassene Kollege die weitere Betreuung übernehmen bzw. können die Patienten sich das Medikament nach entsprechender Schulung sogar selbst verabreichen.

1 McGann JP, Science 2017; 356(6338):eaam7263.