Change im Krankenhaus: Prävention oder Notoperation?

Krankenhäuser sind „Hochsicherheitsorganisationen“, in denen alles gut getaktet und eingespielt ablaufen muss. Was aber geschieht, wenn solche Organisationen sich verändern wollen oder müssen? Veränderungen bringen zunächst einmal Unsicherheit, Unklarheit und Unruhe mit sich. Und dennoch – oder vielleicht gerade deswegen – kann in so einem Umfeld dieser Prozess erfolgreich gelingen, wenn ein paar Spielregeln bzw. Rahmenbedingungen beachtet werden. „Spitalsorganisationen agieren in einem Umfeld vielfältiger und tiefgreifender Veränderungen. So wie ein Patient nicht wie der andere ist, so muss auch jede Organisation dafür ihren eigenen Weg finden und kein Change-Prozess gleicht dem anderen“, weiß Ruth Seliger, Gründerin und Geschäftsführende Gesellschafterin der Unternehmensberatung „trainconsulting“, aus Erfahrung. Die systemische Organisationsberaterin widmet sich besonders den Fragen komplexer Veränderungsprozesse und der Professionalisierung von Führung. In dieser Funktion steht sie mit ihrem Team zum Beispiel der Abteilung Organisationsentwicklung Tirol Kliniken GmbH zur Seite.

 

 

Keine Spur von Esoterik

„Wir gestalten und begleiten Veränderungsmaßnahmen im Unternehmen, die eine Neuorientierung von Organisationseinheiten der Tirol Kliniken GmbH hinsichtlich Leistungen, Strukturen, Prozesse oder Kultur stützen. Mit strukturierten Maßnahmen wird dafür gesorgt, die Effektivität und Leistungsfähigkeit der jeweiligen Organisationseinheit zu steigern“, gibt Dr. Martina Augl, MBA, Leiterin der Organisationsentwicklung in den Tirol Kliniken, Einblick in die Aufgaben ihrer Abteilung. Die Grundprinzipien dafür klingen fürs Erste ein wenig esoterisch: „Wir wollen sinnhafte Räume eröffnen, professionelle Entwicklung fördern, Authentizität gewährleisten und das mit Freude und Leichtigkeit umsetzen“, so Augl. Dass dahinter handfeste Arbeit steckt, wird klarer, wenn man einen Blick auf das Portfolio der Aufgaben wirft: Sie steht zur Seite, wenn zum Beispiel neue Führungskräfte ins Team kommen oder wenn Abteilungen wie etwa die Orthopädie mit der Unfallchirurgie zusammengeführt werden müssen. Dann wird aktiv die interdisziplinäre und interprofessionelle Zusammenarbeit gefördert, zur Innovationsbereitschaft motiviert und für eine rasche Orientierung im neuen Umfeld gesorgt. „Aktuell werden drei Bereiche bearbeitet: die Organisationsentwicklung nach Neubesetzungen von Kliniken oder Primariaten und Pilotprojekte, in denen es um strategisch relevante Neuerungen geht. Hier ist das Ziel eine Tirol-Kliniken-weite Ausrollung erfolgreicher Konzepte. Und schließlich die Zusammenführung und Integration von Organisationseinheiten bis hin zu neu in den Tirol-Kliniken-Verband übernommenen Krankenanstalten“, gibt Augl Einblick in das vielfältige Aufgabenspektrum. Ihre Projekte ergeben sich daher einerseits aus Anforderungen der strategischen Entwicklungen seitens der Tirol Kliniken GmbH, andererseits werden sie durch definierte Anlässe im Arbeitsalltag initiiert. „Letzteres sind häufig Kommunikationsthemen, wie etwa die Frage, wie sich eine Abteilung oder ein neues Team besser strukturieren kann“, beschreibt die Expertin. Als Servicecenter ist sie mit ihrem Team in die „Abteilung Medizin“ eingebettet und arbeitet dort eng mit dem Qualitätsmanagement und der Personalentwicklung zusammen.

 

 

Neubesetzung als Prozess

Methodisch braucht die Organisationsentwicklung der Tirol Kliniken den Vergleich mit internationalen Topkonzernen nicht zu scheuen: „Wir verfolgen einen systemischen Ansatz und sind im Hinblick auf die eingesetzten Methoden am Puls der Zeit“, ist Augl überzeugt. So wurde zum Beispiel ein Netzwerk aller Organisationsentwickler in den Landeskrankenhäusern eingerichtet, um Austausch und Know-how-Transfer zu fördern.
Steht ein Neubesetzungsprojekt an, steht am Beginn in einer Analysephase ein Gespräch mit dem Auftraggeber, ein Einzelinterview mit dem Primar und Gruppeninterviews mit den Mitarbeitern der betroffenen Abteilung. In weiterer Folge wird in Führungsteamworkshops und Zukunftsworkshops ein Konzept erarbeitet, das schließlich in Arbeitsgruppen und weiteren Führungsworkshops in die Umsetzung geht.
Mit Unterstützung der Berater von „trainconsulting“ wird als Instrument die Organisationsanalyse eingesetzt, um Muster und Verhaltenstrends in den Tirol Kliniken zu erkennen. „Unsere Organisationsanalysen geben dem Spital die Möglichkeit, hineinzuhören und so neue Perspektiven zu gewinnen, Ressourcen in den Blick zu nehmen und gehaltvolles Feedback zur Organisation aus verschiedenen Blickwinkeln zu erhalten. Die Analyse gibt Anlass für konstruktive Diskussionen und kann Impuls für positive Veränderung sein“, sagt Seliger. Am Ende wird ein gutes Bild gezeichnet, wie es „dem Spital geht“ – manches wird Top-down getriggert, aber viel Input kommt bei dieser Vorgangsweise auch Bottom-up. Das Spannende daran ist, dass im Spitalssetting praktisch immer multiprofessionelle Teams beteiligt sind und dass auch die Berater am Anfang nicht genau wissen, wohin die Reise geht. „Das ist oft schwer auszuhalten, und manchmal denken die Mitarbeiter, wir sind nur eingeladen, um gute Stimmung für Rationalisierungsmaßnahmen zu machen“, weiß die Beraterin aus Erfahrung. Doch das ändert sich bald, wenn nach der ersten Analysephase den Mitarbeitern und Führungskräften die Zwischenergebnisse präsentiert werden, die aus den Workshops – und damit den eigenen Inputs – kommen. „Wir tragen die Sichtweisen zusammen und suchen nach ähnlichen Bildern“, beschreibt Seliger die Vorgangsweise. Ein Klassiker im Spital ist der Ruf nach mehr Ressourcen: „Hier versuchen wir dann, vorrangig jene Themen auszuwählen, bei denen Mitarbeiter rasch sichtbare Erfolge erleben. Das heißt, wir legen den Fokus auf Maßnahmen, die jeder in seinem Arbeitsumfeld selbst beeinflussen kann, ohne kurzfristig auf mehr Budget oder neue Mitarbeiter warten zu müssen“, erklärt die Expertin weiter.
Aus der Helikopterperspektive hat Augl diese Arbeit analysiert: „Über einen Zeitraum von acht Jahren sieht man Themen immer wieder aufpoppen. Was sich wiederholt, wird dann klinikweit auf die Agenda gesetzt, und hier hat die Organisationsentwicklerin fünf zentrale Rahmenbedingungen gefunden, die praktisch bei jedem Change-Projekt aufgetaucht und für eine Spitalsorganisation typisch sind:

  1. Kommunikation findet hauptsächlich informell statt. Der Vorteil dabei ist hohe Flexibilität und kurze Wege, aber nachteilig ist der geringe Fokus auf Strukturen.
  2. Das Selbstverständnis für Führung ist – typisch für eine Expertenorganisation – wenig ausgeprägt. Kommuniziert wird über Therapien und Diagnosen, nicht aber über Führungsthemen.
  3. Das Wohl der Patienten steht für alle Berufsgruppen im Vordergrund.
  4. Die hohe Komplexität der Spitalsorganisation erschwert die Orientierung und eine gemeinsame Identität. Spitäler sind überaus hierarchisch, auf der anderen Seite existieren viele Parallelsysteme, und kaum ein Einzelner hat einen Überblick über das „große Ganze“.
  5. Eine große Herausforderung ist es, Transparenz in der Organisation herzustellen. Das erfordert vor allem klare Wege, wann „selbst gestalten“ möglich ist und wann das Einholen der notwendigen Erlaubnis im Hierarchiegefüge notwendig ist.

Wenn die Identifikation fehlt

„Change-Prozesse sind immer eine Herausforderung, und sie passieren laufend“, so das ­Fazit von Augl. Nicht einfacher macht es die Tat­sache, dass sich Ärzte tendenziell stark mit ihrer Profession und weniger stark mit der Organisation, für die sie tätig sind, identifizieren. „Die Umbenennung von TILAK auf Tirol Kliniken hat uns das sehr klar vor Augen geführt“, erinnert sich die Expertin und ergänzt: „Jetzt arbeiten wir stärker an der Marke und der absoluten Patientenorientierung, denn das ist ein Thema, das gemeinsam Sinn stiftet. Sitzen alle im selben Boot, so können auch Veränderungen besser bewältigt werden.“
Dass dazu auch die Geschlossenheit in der Führungsebene erforderlich ist, liegt auf der Hand. Die Neubesetzung von Primariaten sieht Augl hier als gute Möglichkeit, den Hebel anzusetzen. „Wir begleiten nicht nur die neue Führungskraft, sondern auch das Team oder die Klinik dahinter. Gemeinsam bereiten wir den Boden auf, damit die Neubesetzung eine Chance für innovative Ideen und gestaltende Kommunikation mit sich bringt.“

 

 

 

Wer braucht schon Führung?

Führung in einer Expertenorganisation ist auch das Thema, das Dr. Manfred Wagner, Medizinischer Direktor der nichtoperativen Bereiche am Klinikum Fürth, einem Schwerpunktkrankenhaus in der Region Nürnberg, derzeit mit Unterstützung von „trainconsulting“ bearbeitet. Gemeinsam ist es gelungen, mit 800 Mitarbeitern Leitsätze zu entwickeln, die das Wertesystem des Spitals repräsentieren. „Wir haben das bewusst in der Ich-Form formuliert“, sagt Wagner. Doch bis es so weit kam, ging ein einjähriger Prozess voraus. Die Herausforderung war, in einer Expertenorganisation wie dem Spital das Thema „Führung“ in den Fokus zu rücken, den Sinn und Nutzen herauszuarbeiten und das Verhalten zu professionalisieren. Auslöser war der Wachstumsschub in der Klinik und gleichzeitig der Wunsch, das Konzept von Positive Leadership in die Praxis umzusetzen und damit auch die Unternehmenskultur weiterzuentwickeln. Ziel dieses Ansatzes ist die Förderung des Besten in Mensch und Organisation, gegenüber dem traditionellen Führungsverständnis, das auf Kontrolle setzt und Fehler ahndet. „Positive Leadership basiert auf den drei Prinzipien Sinn, Stärken und Einfluss und liefert damit das Fundament für Zufriedenheit, bessere Leistungen und Sinnstiftung am Arbeitsplatz“, beschreibt Seliger das Konzept. Die Verbindung zwischen den einzelnen Mitarbeitern und der Organisation als Ganzes wird durch Führungskräfte hergestellt, die sich radikal an den vorhandenen Ressourcen orientieren. „Unsere Annahme am Beginn des Change-Prozesses war, dass die Organisation ein lebendes System ist, das nur verändert werden kann, wenn wir die Kommunikation im System ändern“, erklärt Wagner. Der nächste Schritt war die „Selbsterforschung“ der Organisation: „Wir haben einen interdisziplinären Mikrokosmos erschaffen, dort gemeinsam die Methode der wertschätzenden Organisationsforschung kennengelernt und dann 200 qualitative Interviews durchgeführt und ausgewertet.“ Die Mitarbeiter haben auf der Suche nach den eigenen Ressourcen die Denkweise eines Spitals völlig auf den Kopf gestellt, denn: In einer Gesundheitseinrichtung steht immer die Frage nach dem einfachsten Weg, eine Krankheit zu beheben, im Vordergrund. Nun wurde diese Frage ausgeblendet und erforscht, wo welche Ressourcen der Mitarbeiter und der Organisation liegen. In einer Führungskonferenz wurde über das Thema Führung an sich reflektiert, Führungsgrundsätze wurden erarbeitet, hinterfragt und nachgeschärft. „Es war wohl der größte Austausch über das Thema Führung, den wir erlebt haben“, erinnert sich Wagner an die Bestandsaufnahme in der Klinik Fürth. Alle Mitarbeiter mit Führungsverantwortung wurden als eine eigene „Community“ sichtbar gemacht und ihre Rollen und Führungsanforderungen definiert. Gestartet wurde der Prozess in der Klinikleitung mit dem Entwurf eines Führungsleitbildes, ­gefolgt von den Workshops der Chefärzte und Schritt für Schritt weiter Top-down. In der ersten großen Führungskonferenz mit 160 Teilnehmern wurden Themen entwickelt, wie Mitarbeitergespräche oder Pflegeworkshops, an denen weitergearbeitet wurde. „Hier stehen wir jetzt. Mit den Ergebnissen wird es im November die zweite Führungskonferenz geben“, resümiert Wagner. Wie es weitergeht, sei offen und hänge von den Diskussionsergebnissen ab. Was sich bisher verändert hat, lässt sich aber jetzt schon feststellen: „Wir haben Veränderung angestiftet. So haben wir zum Beispiel gelernt, mehr Aufmerksamkeit auf positive Entwicklungen als auf negative zu legen.“ Was jeder Veränderungsprozess braucht, weiß Wagner genau: „Keyplayer, die das Thema über lange Strecken mittragen und durchhalten.“ Als zweite große Herausforderung, die wohl auf jedes Krankenhaus zutrifft, ortet Wagner die Fähigkeit, zwischen Experten- und Führungsrolle switchen zu können: „Wenn ich mit einem Herzinfarkt in die Klinik eingeliefert werde, dann wünsche ich mir einen Arzt, der seine Kompetenz als Experte ausspielt. Wenn es dann im Anschluss an den Eingriff um das Debriefing im Team geht, dann kann er in seine Rolle als ressourcenorientierte Führungskraft schlüpfen.“

 

Quelle: Vorträge im Rahmen von „Insights“, „trainconsulting“, Sept. 2017, Wien

AutorIn: Renate Haiden

Klinik 05|2017

Herausgeber: MedMedia Verlag und Mediaservice GmbH
Publikationsdatum: 2017-11-08