Facharztprüfung bestanden, aber auch wirklich vorbereitet für die klinische Praxis?

Vor mehr als 15 Jahren wurde die Facharztprüfung in Österreich eingeführt. Diese muss den internationalen Vergleich nicht scheuen. ExpertInnen der deutschen Gesellschaft für Medizinische Ausbildung führten eine wissenschaftliche Untersuchung durch und bestätigten eine hohe Qualität der Facharztpüfung. Die Erlangung dieses Diploms stellt die unumgängliche Berechtigung zur selbstständigen Berufsausübung der jeweiligen Fachdisziplin dar. Es gibt nur noch wenige Länder auf der Welt, in denen für die Erlangung des neurologischen Facharztdiploms keine abschließende Überprüfung der Lernziele erfolgt1. Das Facharztcurriculum verlangt in manchen Ländern sogar eine jährliche Überprüfung der Lernziele, extramurale Rotationen im In- und Ausland oder den Besuch von regional oder national veranstalteten Facharztseminaren2. Eine erst kürzlich durchgeführte Umfrage unter in Europa tätigen Assistenzärztinnen und -ärzten sowie jungen Neurologinnen und Neurologen lieferte allerdings Hinweise darauf, dass nationale Ausbildungscurricula nicht unbedingt alltagsrelevant und auf die spätere klinische Tätigkeit abgestimmt sind3.

Fragestellung

Gibt es alltagsrelevante Ausbildungsziele, die über die erfolgreiche Absolvierung der Facharztprüfung hinausgehen, die eigenständig bereits während der Ausbildung überprüft werden können? Könnte ein Facharztkandidat/eine Facharztkandidatin oder ein junger Facharzt/eine junge Fachärztin mit Hilfe eines Kurztests die Beherrschung jener klinischen Fertigkeiten überprüfen, die für eine adäquate PatientInnenverfügung erforderlich sind?

Material und Methoden

Der US-amerikanische Neurologe Allan H. Ropper (Boston, MA) hat einen 6-Punkte-Selbsttest erstellt, der aus seiner Sicht als Maßstab („bench mark“) für eine eigenständige Tätigkeit als Neurologe/Neurologin und adäquate PatientInnenversorgung grundlegend sind4.

Ergebnisse

Die 6 Domänen nach Ropper sind in der Tabelle im Originalwortlaut zusammengestellt. Im Folgenden sind hierzu weitere Details aus seiner Publikation angeführt.

Fallpräsentationen – kurz, prägnant und schlüssig: Laut Ropper lässt eine kurze und prägnante Fallpräsentation mit nachvollziehbaren diagnostischen und therapeutischen Überlegungen auf ein gutes Verständnis der klinischen Neurologie und adäquate Betrachtung eines klinischen Falles schließen. Es ist auch zu beachten, dass nach 2 Minuten nicht nur die Aufmerksamkeit der Zuhörenden abnimmt, sondern auch der Ductus der Präsentation nicht mehr nachvollziehbar wird.

Erkennen der Notfallsituation und rasches Umsetzen von Maßnahmen: Kann ich potenzielle neurologische Akuterkrankungen frühzeitig erkennen, und habe ich Notfall­situationen im Griff? Konnte ich im Laufe meiner Ausbildung ein Gespür für das frühzeitige Erkennen von medizinischen Notfällen bei ambulanten und stationären PatientInnen entwickeln? Ropper postuliert, dass dieses Ausbildungsziel in der Regel nicht erreicht ist, wenn man häufig nach erfolgtem neurologischen Konsil notfallmäßig erneut gerufen wird.

Welchen Zugang zu schwierigen Fällen habe ich erlernt? Wie gehe ich bei komplexen Fällen vor? Konnte ich Denk- und Vorgehensweisen von meinen AusbildnerInnen erlernen? Habe ich auch unterschiedliche Strategien z. B. „top-down“ oder „bottom-up“ herauslesen können? Welcher Stil liegt mir mehr, wie ist meine persönliche Herangehensweise? Habe ich gelernt, mit einem Sammelsurium von klinischen Informationen und Befunden umzugehen? Welche klinischen Untersuchungsbefunde sind wirklich für das Erkennen eines Syndroms relevant, welche Untersuchungen könnten entscheidende Hinweise liefern? Eine besonders wichtige Frage für Ropper: Konnten Sie Freundschaften mit Ihren Ausbildungskolleginnen und -kollegen aufbauen – werden Sie diese auch später wegen klinischer Fragen kontaktieren können?

Horizonterweiterung durch Studium der Originalliteratur: Für Ropper ist es grundlegend, die Originalliteratur zu studieren und in der zeitlichen Entwicklung zu verstehen. Wer hat dies in der Ausbildung getan? Ein Teil der historischen Literatur liegt sogar auf Deutsch vor! Exemplarisch führt er das Verständnis für die Apraxie durch Studium der Arbeiten von Karl Kleist (ideomotorische Apraxie), Hugo Liepmann (motorische Asymbolie), Jack E. Goldstein (Lidapraxie), A. R. Luria (4 Apraxieformen), Derek Denny-Brown (5 Varianten), und Norman Geschwind (Diskonnektion) an. Man kann sicher auch dem anachronistischen Schreibstil etwas abgewinnen.

Kann ich durch die klinische Untersuchung eine Hypothese erstellen? Was tun bei Stromausfall? Habe ich die klinische Neurologie auch so weit verinnerlicht, dass ich eine klinische Verdachtsdiagnose stellen kann oder benötige ich immer eine MRT-Untersuchung der gesamten Neuroachse? Kann ich klinische Hypothesen formulieren und die diagnostischen Mittel rational und sequenziell einsetzen. Wie deute ich klinische und diagnostische Befunde, wann haben sie Relevanz? Was schließe ich, wenn ein Ba­binski-Zeichen vorliegt, aber das MRT keine Läsion nachweisen kann?

Wie wird meine klinische Tätigkeit von den ärztlichen Kolleginnen und Kollegen betrachtet und beurteilt? Sind Sie davon überzeugt, dass sich ein erkrankter ärztlicher Kollege/eine Kollegin Ihnen anvertrauen und sich von Ihnen behandeln lassen würde? Ropper sieht in dieser Frage nicht nur die fachlichen Kompetenzen, sondern auch die weiteren Fertigkeiten vertreten, die einen guten Neurologen/eine gute Neurologin ausmachen. Hier sein Originalzitat: „The residency should prepare you to be trusted. This includes learning to live with your mistakes and to carry yourself in an open and honest way so that your patients will value you despite your fallibility“.4

Conclusio

Nach vielen Ausbildungsjahren und Erlangen des Diploms ist man endlich in der Lage, fachärztlich tätig zu sein. Allerdings ist ein Facharztzeugnis nur die Bestätigung der formellen Überprüfung des Fachwissens und der nationalen Standards. Ob dies primär ein Erfolg für die auszubildende Abteilung bleibt, auch persönliche Ausbildungsziele erreicht wurden und man ausreichend für eine zeitgemäße klinische Tätigkeit ausgebildet wurde, wird hiermit nicht erfasst. Die Frage, ob man denn wirklich ausreichend für die Herausforderungen des Alltags und kritische Situationen ausgebildet wurde, kommt aber nicht unbegründet. Eine rezente Umfrage unter Assistenzärztinnen und Assistenzärzten sowie jungen Fachärztinnen und Fachärzten in der Europäischen Union hat überdies ergeben, dass vor allem das selbständige Handeln bei neurologischen Notfällen, ein rationales Erarbeiten von Differenzialdiagnosen und Sicherheit bei therapeutischen Entscheidungen nur eingeschränkt beherrscht werden. Die von Ropper zusammengestellten 6 Punkte sind mit Sicherheit nicht vollständig, sollen kritische Denkanstöße liefern und den einen oder anderen in Ausbildung befindlichen Kollegen/Kollegin zur 360°-Betrachtung von Ausbildungszielen motivieren.

1 Steck A et al., Education Committee World Federation of Neurology. The global perspective on neurology training: the World Federation of Neurology survey. J Neurol Sci 2013; 334(1–2):30–47
2 Struhal W et al., Neurology residency training in Europe – the current situation. Eur J Neurol 2011; 18(4):e36–40
3 Györfi O et al., European junior neurologists perceive various shortcomings in current residency curricula. Acta Neurol Scand 2015. DOI: 10.1111/ane.12533. [Epub ahead of print].
4 Ropper AH, How to determine if you have succeeded at neurology residency. Ann Neurol 2016; 79(3):339–41

 

Johann Sellner • Education and Training • neuro 02|2016 • 08.07.2016


AutorIn: Assoc. Prof. DDr. Johann Sellner

Universitätsklinik für Neurologie, Christian-Doppler-Klinik
Paracelsus Medizinische Universität, Salzburg