Interview

Hohe Arbeitsbelastung und steigender Druck

die aktuelle Situation im österreichischen Gesundheitswesen?

Wie Erhebungen der Österreichischen Ärztekammer (ÖÄK) zeigen, haben noch nie so viele medizinische Mitarbeiter psychisch und physisch so viel ertragen müssen wie in den letzten Jahren. Viele von ihnen – insbesondere aus dem Pflegebereich – wechseln mittlerweile ausgebrannt den Job oder zumindest die Station bzw. haben es vor.

Über die aktuelle Situation im österreichischen Gesundheitswesen sprechen Dr. Gerald Gingold, Facharzt für Radioonkologie, Obmann der Kurie angestellte Ärzte sowie Vizepräsident der Ärztekammer für Wien, und Dr. Eduardo Maldonado-González – er absolvierte an der Klinik Donaustadt seine Facharztausbildung im Bereich Innere Medizin und betreut innerhalb der Österreichischen Ärztekammer das Referat für Jungmediziner, Arbeitslosigkeit und Soziales.

nextdoc: „Österreich ist ein Ärzte-Produzent für die Welt.“ Dieses Zitat stammt aus einem Interview mit dem Rektor der MedUni Wien, Univ.-Prof. Dr. Markus Müller. Können Sie dieser Aussage beipflichten?
Dr. Gingold: In gewisser Weise, ja. Rund 20 % der Medizinabsolventen verlassen Österreich nach Abschluss ihres Studiums. Das ist zwar sehr schade, aber die Arbeits- und Ausbildungsbedingungen sowie das Gehalt sind im Ausland vielerorts besser als bei uns.

Dr. Maldonado-González: Das Zitat von Prof. Müller kann ich gut nachvollziehen: Der Staat Österreich investiert Zeit und Geld in die Ausbildung von Kolleginnen und Kollegen (die Qualität der Ausbildung ist ein anderes Thema und kann diskutiert werden), um sie dann dank der hier herrschenden Arbeitsbedingungen zu verscheuchen. Profiteure sind natürlich Länder wie Deutschland und die Schweiz, die dann unsere „Ziehkinder“ quasi „erben“.

Wie könnte es aus Ihrer Sicht gelingen, dass mehr Jungärzte in Österreich bleiben

Dr. Maldonado-González: Die wichtigsten Punkte wären 1. Wertschätzung und Arbeitsbedingungen, 2. Verbesserung der Ausbildungsqualität und 3. Gehaltserhöhung.

Dr. Gingold: Man müsste aus meiner Sicht bereits im letzten Abschnitt des Studiums ansetzen, indem man den KPJ-Studierenden mehr bezahlt als eine bloße Aufwandsentschädigung, die nicht einmal die Fixkosten deckt, um damit bereits Wertschätzung auszudrücken. In weiterer Folge werden wir attraktivere Rahmenbedingungen wie flexiblere Arbeitszeitmodelle benötigen sowie die Schaffung von zusätzlichen Dienstposten, um wirklich alle von der ÖÄK genehmigten Ausbildungsstellen besetzen zu können. Zudem braucht es bessere Aus- und Fortbildungsmöglichkeiten. Dreh- und Angelpunkt ist aber die Wertschätzung der Dienstgeber und der Politik, um die genannten Punkte auch zeitgemäß und lebbar umsetzen zu können.

Wie zeitgemäß ist die medizinische Ausbildung in Österreich im internationalen Vergleich?
Dr. Gingold: Hier stellt sich die Frage, was man unter „zeitgemäß“ versteht. Es gibt jedenfalls wie überall Luft nach oben. Sinnvoll und dringend nötig wären die Einführung eines Mentoring-Systems, die gegenseitige Evaluierung von Ausbildner und Auszubildendem sowie deutlich mehr Zeit und finanzielle Mittel für Fort- und Weiterbildungen. Deshalb fordere ich für Wien – wie in anderen Bundesländern bereits teilweise umgesetzt – den jährlichen „Fortbildungszweitausender“ für Ärzte in Ausbildung

Sind die derzeitigen Arbeitszeitmodelle noch zeitgerecht?
Dr. Maldonado-González: Nein, zeitgerecht sind die derzeitigen Arbeitszeitmodelle sicher nicht. Darüber muss man nicht diskutieren. Dennoch glaube ich, dass viele Kollegen mit der derzeitigen Situation zufrieden sind, andere natürlich nicht. Ich gehöre zur Gruppe der Zufriedenen – ich bin stolzer WIGEV(Wiener Gesundheitsverbund; Anm.)-Mitarbeiter, das meine ich ernst! Aber ich bin 43 Jahre alt, Vater von zwei Kindern mit 4 und 5 Jahren. Ich mache pro Monat 5–7 Nachtdienste (25-Stunden-Dienste). Ansonsten fange ich um 8 Uhr an und gehe zwischen 13:00 und 13:30 Uhr nach Hause. Aber: Müsste ich 12,5-Stunden-Dienste machen, dann würde ich zur unzufriedenen Gruppe gehören. Aber noch einmal, es ist eine schwierige Frage und wahrscheinlich abhängig vom Lebensabschnitt, in dem man sich gerade befindet, sowie davon, ob man zu Hause Unterstützung hat oder nicht.

Wie konnten Sie während der Pandemie Familie und Beruf aufeinander abstimmen und wie geht es anderen jungen Kollegen mit Familie dabei?
Dr. Maldonado-González: Ich kann hier nur für mich sprechen und ganz ehrlich, es hat sich nicht viel verändert. Die Angst, sich zu infizieren, wurde mit der Zeit immer weniger. Jetzt weiß man ja, worauf man achten muss. Die Angst um die Kinder ist natürlich noch immer da. Unser Großer hat sich als Einziger von uns angesteckt. Das war im Kindergarten in Niederösterreich – dank einer nicht geimpften Kindergartenpädagogin. Gott sei Dank blieb er so gut wie symptomfrei. Die Einschränkungen im öffentlichen Bereich haben mich, wenn ich ehrlich bin, kaum betroffen, da mein Lebensmittelpunkt zu Hause ist.

Kommen wir noch einmal zur Standespolitik. Wir erleben derzeit eine steigende Gewalt gegenüber medizinischem Personal. Die Bundeskurie hat erst vor Kurzem in einer Resolution dringend den besseren Schutz von Ärzten gefordert. Ist das Ihrer Meinung nach genug?
Dr. Gingold: Die Situation gegenüber dem Gesundheitspersonal ist erschreckend und zutiefst abzulehnen – wir machen ja alle nur unseren Job! Die Resolution war ein erster Schritt und wir hoffen, dass die Politik hier endlich reagiert und diesem Wahnsinn einen Riegel vorschiebt.

Welche Maßnahmen wären aus Ihrer Sicht notwendig, um die angespannte Situation für das gesamte medizinische Personal zu verbessern?
Dr. Gingold: Spitäler und die dort arbeitenden Personen müssen als Aggressions- oder gar Angriffsziele tabu sein. Die Krankenhausträger sind dazu verpflichtet, den bestmöglichen Schutz vor Ort, beispielsweise durch mehr Security-Personal oder entsprechende Mitarbeiterschulungen, zu bieten.

Es gibt laut ÖÄK hierzulande derzeit 13.138 AllgemeinmedizinerInnen. Etwa 50 % aller KassenärztInnen werden in den kommenden zehn Jahren in den Ruhestand treten. In einigen Bundesländern gibt es Modelle, diesen Mangel über ausgelagerte Spitalsambulanzen zu beheben. Ist das eine suffiziente Lösung oder steuern wir auf einen massiven Ärztemangel zu?
Dr. Gingold: Ich glaube, es existiert sowohl ein Verteilungs- als auch ein Versorgungsproblem. Es geht auch hier letztlich um die Frage der Wertschätzung. Das Image des Hausarztes muss aufgewertet werden, zudem müsste wohl dringend die Honorierung der Leistungen nachgebessert werden, vor allem in den ländlichen Gebieten, gilt es doch gerade dort die wohnortnahe Versorgung der Bevölkerung sicherzustellen. Hausärzte sind oft wesentlich schneller zu erreichen als Spitalsambulanzen, und die können nicht für alles zuständig sein.

 

Interview: Dr. Arastoo Nia