Notfallmedizin: Erstversorgung statt Erstverteilung

Bild: Oliver Miller-Aichholz

Die Notfallabteilung des Krankenhauses Nord – Klinik Floridsdorf ist in Wien die erste ihrer Art. ARZT & PRAXIS sprach mit dem Leiter der Abteilung, Prim. Univ.-Prof. Dr. Philip Eisenburger, über Maßnahmen während der COVID-19-Pandemie (Stand 23. 4. 2020), die Notwendigkeit einer eigenen Notfallausbildung und strukturelle Anforderungen einer modernen Notfalleinrichtung.

 

ARZT & PRAXIS: Wie ist die neue Notfallabteilung ausgestattet, auf welche Infrastruktur können Sie zurückgreifen?
Prim. Univ.-Prof. Dr. Philip Eisenburger:
Was diese Abteilung auszeichnet und worin sie sich auch von vielen in anderen Krankenhäusern unterscheidet, ist, dass sie tatsächlich für Notfälle ausgerichtet ist. Viele Erstversorgungen werden für die Logistik des Hauses eingesetzt, dienen sozusagen als Portiersloge und sind nicht der Ort, an den tatsächlich die kränksten Patienten kommen, wie die Bezeichnung impliziert. Wir haben hier eine Ersteinschätzung; das ist internationaler Standard, denn sobald die Anzahl der Patienten jene des ärztlichen Personals übersteigt, muss eine Reihenfolge festgelegt werden, in der die Patienten begutachtet werden. Wir arbeiten mit dem fünfstufigen Manchester-Triage-System.
Wir haben 22 Betten, und die Aufnahmen für die anderen Abteilungen zwischen 18 und 8 Uhr werden von uns durchgeführt. Am darauffolgenden Vormittag müssen die aufgenommenen Patienten dann innerhalb von fünf Stunden auf die Stationen verteilt werden. Das bedeutet einen großen Aufwand, aber dieser logistische Aspekt wurde bereits bei der Planung berücksichtigt.

Welche strukturellen Veränderungen braucht es allgemein in Krankenhäusern im Zusammenhang mit der Notfallabteilung?
Die Aufnahme und Versorgung der Patienten durch die Notfallabteilung zwischen 18 und 8 Uhr bedeutet natürlich eine Entlastung für die Stationen. Auch die Patienten profitieren, indem auf den Stationen die Nachtruhe eingehalten werden kann. Es ist daher nicht sinnvoll, wenn der Personalstand auf den Stationen gleich bleibt, während die Notfallabteilung alle Aufnahmen macht. Darüber hinaus muss es eine Alternativoption zum Spital auch während der Nacht bzw. am Wochenende geben. Das ist ein Punkt, der für Primärversorgungszentren spricht, wo fusionierte Kassenverträge zu langen Öffnungszeiten führen.

Wie steht es um Personalbedarf und -rekrutierung?
Wir brauchen eine gute Personalausbildung und eine entsprechende Zulage, die auch woanders üblich ist, denn sonst bleiben die kompetenten Leute nicht. Zusätzlich braucht man einen vernünftigen Personalschlüssel in jeder einzelnen Stunde, um den Kollegen auch eine gute Lebensqualität zu ermöglichen. Dieser Schlüssel ist bei uns gegeben, und die Stellen sind fast vollständig besetzt.

Aus welchen Fachgebieten rekrutieren sich die Ärzte bzw. Teams an Ihrer ­Abteilung?Wir haben Allgemeinmediziner , Internisten und Anästhesisten im Team. Zusätzlich sind Fachärzte für Orthopädie/Traumatologie und Neurologie vor Ort, die ihre Patienten fallführend selbst betreuen. Wir arbeiten zum Teil multidisziplinär mit einem Logistik- und einem Pflegeteam, die wiederum mit mehreren medizinischen Disziplinen zusammenarbeiten. Diese Hybridlösung ist also keine wirkliche zentrale Notfallabteilung – aber fast. Das hat Vor- und Nachteile. Momentan wäre das auch von der Arbeitsverteilung und -belastung nicht anders denkbar.

Was muss ein Arzt mitbringen, um an Ihrer Abteilung zu arbeiten?
Aktuell arbeiten die Kollegen an einer Abteilung, zu der es kein eigenes Fach gibt. Jeder hat ein Herkunftskompetenz- und ein Entwicklungsgebiet, und daraus erarbeitet man sich dann das Gebiet der Notfallmedizin. Es gibt den Spruch „Die Notfallmedizin umfasst die spannendsten 15 Minuten aller anderen Fächer“. Nachdem es eine Fülle unterschiedlicher Tätigkeitsfelder gibt, sollte man einen breiten Horizont haben. Den Tiefgang muss man sich dann selbst erarbeiten. Es machen zwar nicht alle alles, aber sie sollten für alles offen sein. Es geht um Offenheit für eine Fülle von Themen: vom Husten und Harnwegsinfekt über Vergiftungen und COPD-Krisen bis hin zu Verbrennungen und Komaabklärung. Man sollte im Kopf flexibel bleiben – diesen Bedarf sieht man auch angesichts der aktuellen Pandemie. Diese Bereitschaft für Neues ist in der Medizin generell, in der Notfallmedizin aber besonders wichtig. Das gilt auch gerade in der Umbruch- bzw. Aufbauphase, in der sich die Notfallmedizin in Österreich aktuell befindet.

Welche Veränderungen bzw. Entwicklungen braucht es in der Ausbildung?
In Österreich gibt es im Gegensatz zu nahezu allen anderen EU-Staaten kein Spezialfach bzw. keine Spezialisierung für Notfallmedizin. Das ist allerdings ein Generationenthema. Mir ist unverständlich, warum nicht längst wahrgenommen wird, dass hier Bedarf besteht. Das ist auch für den Patienten wichtig. Es braucht einen Case Manager, analog zum Hausarzt im niedergelassenen Bereich, sozusagen einen Akutgeneralisten.

Wie könnte die Ausbildung dieses Akutgeneralisten aufgebaut sein?
Die aktuelle Ausbildung zum Allgemeinmediziner deckt natürlich schon viel ab. Was aber fehlt, ist die Akutsituation, z. B. die Stabilisierung eines Patienten im Schock, ohne dass er sofort auf die Intensivstation gebracht wird. Diagnostizieren und Stabilisieren sind die Kerndomänen. Was häufig und gängig ist, behandle ich selbst; wenn das nicht geht, hole ich mir natürlich das Konsil. Das Häufige sollte ich also abdecken können, von der Panikattacke über die Schmerztherapie bis zur elektrischen Kardioversion. Diese Ermächtigung haben Notfallmediziner üblicherweise; das ist auch der Auftrag vom Haus. Es braucht nicht für alles den Spezialisten. Umso wichtiger ist es natürlich, seine Grenzen zu kennen – auch bei einer Querschnittsmaterie wie der Notfallmedizin.
Wenn ich eine Maßnahme setze, wie eben z. B. eine Sedierung für eine Kardioversion, dann muss ich mit ihren Komplikationen umgehen können. Diese Verantwortung haben wir gegenüber dem Patienten.

Gibt es aktuelle Bestrebungen, eine entsprechende Ausbildung zu etablieren?
Kürzlich habe ich von unserer Generaldirektion den Auftrag erhalten, ein Konzept zu erarbeiten, das eine Ausbildung zum Arzt für Allgemeinmedizin vorsieht, bei der vom ersten Tag an darauf hingearbeitet wird, dass man am Ende der Ausbildung fertig ausgebildeter Notarzt ist.
Grundsätzlich haben wir eine begrüßenswerte Novelle der Notarztausbildung, bei der die Voraussetzungen klar definiert und auch Richtzahlen hinterlegt sind. Das ist auch gut so, aber in der Ausbildung zum Allgemeinmediziner üblicherweise nicht zu schaffen, wenn man nicht auf einer Anästhesie war. Die Hürde wurde zugunsten der Ausbildungsqualität höher. Das betrifft aber nur die Ausbildung zum präklinischen Notarzt. Die innerklinische Notfallmedizin mit ihrem deutlich breiteren Spektrum ist da nicht inkludiert, wenngleich das neue Notarzt-Diplom eine hervorragende Basis darstellt. Die bislang einzige Ausbildung für die Tätigkeit in einer Notfallabteilung ist der zweijährige Diplomlehrgang für Innerklinische Notfallmedizin, den die Österreichische Vereinigung für Notfallmedizin (AAEM) anbietet.

Wie sieht es mit dem Notfallwissen in anderen Fachdisziplinen aus? Braucht es hier mehr Fortbildungen?
Grundsätzlich kann man von jedem Arzt erwarten, dass er die Maßnahmen zur ärztlichen Ersten Hilfe beherrscht und dieses Können auch regelmäßig auffrischt – dass er den Patienten reanimiert, einen semiautomatischen Defibrillator einsetzen kann und eine Maskenbeatmung durchführt, bis das Herzalarmteam bzw. der Notarzt kommt. Es ist allerdings nicht erforderlich, dass er intubieren kann. Das ist auch auf den Normalstationen in unserem Haus abgebildet: Es sind zwar Defibrillator und Beatmungsbeutel vorhanden, nicht aber Laryngoskop und Tubus. Es geht um ärztliche Erste Hilfe und nicht um eine intensivmedizinische Endversorgung.

Zur aktuellen Situation: Wie haben Sie den Beginn der COVID-19-Pandemie erlebt? Mit welchen Maßnahmen wurde an Ihrer Abteilung reagiert?
Den ersten COVID-Verdachtsfall hatten wir am 26. 2. 2020, und wir haben an dem Tag festgestellt, dass das der Beginn einer historischen Zeitperiode ist. Begonnen haben die Änderungen in der Abteilung mit einem isolierten Raum, dann kam ein abgetrennter Gang, und jetzt haben wir eine komplette Teilung in zwei Bereiche: eine gelbe Zone I für „infektiös“ und eine grüne Zone A für „alle anderen“. Das war dank der baulichen Planung auch sofort möglich. Das Prozedere wurde anfangs täglich angepasst und ist mittlerweile seit Wochen eingelebt. Jeder Schritt wurde auf Kontaminationsmöglichkeiten überprüft und gegebenenfalls adaptiert. Durchgehend werden chirurgische Masken und bei Patientenkontakt FFP-Masken getragen.

Welche waren die größten Herausforderungen?
Eine Herausforderung war das Contact Tracing, bei dem herausgefunden werden muss, wer mit einem Corona-positiven Patienten Kontakt hatte. Das hat beim ersten Mal zwei Stunden gedauert. Und wir mussten anfangs auch einige Mitarbeiter in Quarantäne schicken. Wir haben aber daraus gelernt. In weiterer Folge wurde bei jedem Patienten von Anfang an notiert, mit wem er Kontakt hatte und inwieweit derjenige geschützt war. Damit dauert das Tracing jetzt fünf Minuten.
Schwierig war die Definition der COVID-Verdachtsfälle: Wann ist ein Patient ein Verdachtsfall? Und vor allem: Wann nicht? Niemand will einen Patienten aufnehmen, der sich später als positiv herausstellen könnte, von dem man aber annimmt, er wäre negativ.

Wie hat sich das Patientenaufkommen entwickelt?
Wir hatten die Bilder aus Italien vor Augen und waren für COVID-Patienten vorbereitet. Und der Aufwand am einzelnen Patienten war und ist ja deutlich höher als bei Patienten ohne COVID-Verdacht. Die Anzahl der „normalen“ Patienten ohne COVID-Verdacht hat sich initial deutlich reduziert, ähnlich wie in anderen Häusern. Viele Patienten dürften verunsichert sein und sich fürchten, ins Spital zu gehen bzw. aufgenommen zu werden. Das ist aber alles sehr spekulativ, weil ich mit denen, die nicht zu uns gekommen sind, nicht gesprochen habe. Patienten dürften sehr restriktiv sein, was das Aufsuchen von Krankenhäusern betrifft. Das berichten auch Kollegen, die als Notärzte unterwegs sind.
Die, die jetzt kommen, sind wirklich krank. Und für diese Patienten sind wir schließlich da und auch seit Beginn der Krise unverändert offen. Welche Patienten mit wirklichen Notfällen nicht kommen und welche Auswirkungen bzw. Langzeitfolgen das hat, ist schwer herauszufinden. Da bedarf es groß angelegter Studien. Mittlerweile kommen die Patienten aber wieder, die Zahlen steigen wieder an. Zurücklehnen geht also nicht.