ÖGB-Präsident sieht Sozialsystem bedroht

Herr Katzian, aktuell wird der 12-Stunden-Tag öffentlich sehr heftig kritisiert. Sie sagen, das sei ein Angriff auf die ­Gesundheit?

Wolfgang Katzian: Nicht nur ich, auch der Präsident der Ärztekammer hat dieser Tage darauf hingewiesen, dass mehrmalige 12-Stunden-Tage massive Auswirkungen auf die Gesundheit haben. Erst im Vorjahr gab es eine Studie der Medizinuniversität Wien, wo dies deutlich nachgewiesen wurde. Andere Studien aus den vergangenen Jahren, auch internationale, haben ebenfalls zu keinen anderen Ergebnissen geführt. Bereits ab der neunten Stunde sinken die Aufmerksamkeit und die Konzentration, ab der elften Stunde steigt die Unfallhäufigkeit. Arbeitsverdichtung und lange Arbeitszeiten führen zu Schlafstörungen und letztendlich zu Burn-out. Der starke Anstieg von psychischen Erkrankungen ist seit Jahren ein Thema.

Damit sind wir mitten in der Debatte um die Zukunft des Gesundheitswesens. Wie ist Ihre Position als ÖGB-Präsident dazu?

Wir setzen uns vor allem für ein gutes Leben der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ein. Da spielen die Vorsorge, die bestmögliche medizinische Behandlung und die Rehabilitation ambulant wie auch stationär eine zentrale Rolle. Wir wollen, dass die modernen Erkenntnisse der Medizin weiterhin allen Menschen unabhängig vom Einkommen oder sozialen Status zur Verfügung stehen. Darum sagen wir auch, dass man mit Veränderungen in der Sozialversicherung behutsam umgehen muss.

Also alles in Ordnung und kein Veränderungsbedarf im System?

Doch! Ich gehe mit der Frau Bundesministerin konform, dass es eine Harmonisierung der Leistungen braucht. Leider wurde da bei der Präsentation des Ministerratsvortrags eine große Chance vertan, weil zwar von einer Leistungsharmonisierung bei den Gebietskrankenkassen die Rede ist, aber eine Harmonisierung über alle Träger leider kein Thema ist. Genau hier liegen aber die großen Unterschiede, und diese sind vor allem den unterschiedlichen Versichertengruppen geschuldet. Das war auch das absolut wichtigste Ergebnis der Studie der London School of Economics aus dem Vorjahr.

Es wird ja auch Veränderungen in der Selbstverwaltung und bei der Beitragsprüfung geben …

Ja, die Selbstverwaltung soll zwar bleiben, aber sie wird umgebaut. Dadurch entsteht die skurrile Situation, dass dann eine Krankenversicherung für Arbeitnehmer von einer Selbstverwaltung geführt wird, die zur Hälfte aus Arbeitgebern – die gar nicht in diesem Träger versichert sind – besteht. Das ist absurd und meiner Meinung nach verfassungswidrig!

Und die Einhebung der Beiträge, die die Regierung weg von den Kassen und hin zur Finanz verlagern will?

Alle uns zugänglichen Einschätzungen der Rechtsexperten sagen, dass Beitragsprüfung und Beitragseinhebung integrierter Bestandteil einer Selbstverwaltung sind. Plan der Regierung ist es, dass die Beitragsprüfung an die Finanz ausgelagert wird. Da wird allerdings nach unterschiedlichen Prinzipien geprüft. Die Finanz prüft nach dem Zuflussprinzip, ob für die zugeflossenen Beträge korrekte Beiträge abgeführt wurden. Die Krankenkassen prüfen nach dem Anspruchslohnprinzip. Das bedeutet, dass zuerst geschaut wird, ob der Arbeitnehmer richtig laut Kollektivvertrag eingestuft ist – eine wichtige Maßnahme gegen Lohndumping. Danach wird überprüft, ob die korrekten Beiträge abgeführt werden – das hat entsprechende Auswirkungen auf das Krankengeld und anderes. Eine Abschaffung der Prüfung der Ansprüche wäre ein massiver Rückschritt.

Die Krankenversicherung wäre dann nicht mehr dezentral. Was bedeutet das in der Praxis?

So einfach geht eine Zentralisierung nicht und ich halte es auch nicht für sinnvoll. Die Ärztekammer, die Wirtschaftskammer – also die wichtigsten Vertragspartner der Sozialversicherung – sind dezentral organisiert und auch die Gesundheitsplattformen, die einen steuernden Charakter haben, sind nach Bundesländern organisiert, und die Krankenversicherung ist wichtiger gestaltender Teil dieses Prozesses. Neben genau definierten zentralen Steuerungs- und Kontrollmechanismen garantiert regionale Selbstständigkeit sowohl Versichertennähe in der Betreuung als auch Flexibilität bei den lokalen Bedürfnissen und vor allem, nicht zu vergessen: Die regionale Selbstständigkeit ist ein wesentlicher Faktor für eine große Anzahl von KMUs und Nahversorgern. Es wäre volkswirtschaftlich betrachtet vollkommen unvernünftig, das alles ausschließlich zentral zu steuern. Wir werden daher weiterhin dezentrale Strukturen brauchen. Ich halte es aber für essenziell, dass es einen entsprechenden Finanzausgleich zwischen den Sozialversicherungsträgern gibt. Ohne diesen wird eine Leistungsharmonisierung nicht möglich sein.

Und was ist mit der Unfallversicherung?

Die AUVA ist ein wichtiger Sozialversicherungsträger. Insbesondere die Unfallkrankenhäuser leisten großartige Arbeit und die Rehabilitationszentren haben über die Grenzen Österreichs hinaus einen tollen Ruf. Wer der AUVA 500 Millionen Euro abknöpfen will, riskiert, dass ein wesentlicher Pfeiler der sozialen Sicherheit in Österreich unter die Räder kommt. Wir sind daher solidarisch mit allen, die sich für eine Beibehaltung der AUVA und ihrer Leistungen einsetzen.

Warum ist es da in der bewährten Sozialpartnerschaft zu keiner gemeinsamen Vorgangsweise gekommen?

Leider hat die Bundesregierung auch hier nicht das Gespräch mit uns gesucht. Ich habe den Eindruck, dass es in der Wirtschaft Gruppen gibt, die einen wesentlichen Grundkonsens der Zweiten Republik, nämlich die gemeinsame Finanzierung der Sozialversicherung, infrage stellen wollen. Andererseits ist Gesundheit in einer immer älter werdenden Gesellschaft ein wichtiges Geschäftsmodell für viele Unternehmen geworden und jeder will daran verdienen. Wir haben immer darauf geschaut, dass wir eine soziale Struktur haben, welche die Leistungen für die Patienten im Fokus hat und nicht einen möglichen Gewinn. Ich möchte auch in Zukunft, dass der Arzt auf einer Reha entscheiden kann, dass der Patient weitere zwei Wochen bleiben soll, wenn dies seiner vollständigen Rehabilitation hilft. Aber dieses Credo ist halt in einem gewinnorientierten Unternehmen nicht umzusetzen.

Ungeachtet der Sozialversicherung – wo sehen Sie die größten Herausforderungen?

Das sind sicher die Finanzierung einer Spitzenmedizin für alle, die wohnortnahe ärztliche Betreuung sowie die Organisation und Finanzierung der Pflege. All das ist auch Teil eines guten Lebens – je nachdem, in welcher Lebensphase man sich befindet. Wir werden uns daher hier im Herbst auf den Weg machen und gemeinsam mit Partnern darüber diskutieren, wie wir diese Ansprüche auch in Zukunft finanzieren und sichern können.

Vielen Dank für das Gespräch!