„Ein zentrales Thema wird die Patientensteuerung“

© Oliver Miller-Aichholz

Peter McDonald, Obmann der ÖGK und Vorsitzender im Dachverband der Sozialversicherungen, spricht im RELATUS-Interview über Herausforderungen und Reformideen im Gesundheitswesen. 

Wie sehen Sie die aktuelle Situation im Gesundheitswesen? Es wird zu viel über tagesaktuelle Themen diskutiert: Kassenstellen, die an dislozierten Orten nicht besetzt werden können oder Wartezeiten in Spitälern. Beides ist für Patienten ärgerlich – aus Unternehmenssicht der Sozialversicherung und der anderen Stakeholder im Gesundheitswesen sollten wir uns auch deshalb mit der Zukunft, dem Gesamtbild beschäftigen. Wir müssen uns jetzt für die Zukunft rüsten und über neue Methoden zu einer besseren Patientensteuerung, stärkeren Gesundheitskompetenz und -vorsorge sowie mehr Verantwortungsübernahme des Einzelnen diskutieren. Ich sehe fünf enorme Herausforderungen, die auf uns zukommen. 

Welche sind das? Zuerst die demografische Entwicklung: Die Lebenserwartung steigt und das ist auch unserer erfolgreichen Arbeit im Gesundheitswesen zu verdanken. Das ist natürlich positiv. In den nächsten 25 Jahren wird die Zahl der Über-65-Jährigen von 1,8 auf 2,7 Millionen ansteigen. Diese Gruppe der leistungsintensiveren Versicherten braucht aber doppelt so viele medizinische Leistungen wie die Unter-65-Jährigen. Die Nächste ist eigentlich auch eine positive Nachricht – der medizinische Fortschritt. Es gibt eine tolle Pipeline in der Pharmaindustrie, bei Medizinprodukten und auch neue Behandlungsmöglichkeiten. Sie machen etwa Krebs von einer vielfach tödlichen Erkrankung zu einer hauptsächlich chronischen beziehungsweise heilbaren Erkrankung. Das bringt aber auch zusätzliche Kosten mit sich. 

Die Pharmaindustrie argumentiert damit, dass innovative Produkte Kosten senken. Wenn jemand geheilt wird, wird es natürlich billiger. Generell ist aber anzunehmen, dass die positiven Effekte der Innovationen gleich bezahlt werden müssen und erst mittelfristig Kosten sparen. 

Und die nächsten Herausforderungen? Es sinkt die Zahl der Personen, die Beiträge zahlen können, sowie die geleisteten Arbeitsstunden. Jeder Dritte arbeitet heute bereits in Teilzeit. In den kommenden 25 Jahren werden die Menschen, die im beschäftigungsfähigen Alter sind, um 300.000 Personen weniger. Alleine die Reduktion des Arbeitskräftepotenzials bedeutet in heutiger Währung knapp eine Milliarde weniger Einnahmen. Dazu kommt, dass uns bei steigender Inanspruchnahme demografiebedingt auch medizinisches Personal fehlt. Auch dass das Wirtschaftswachstum nicht mehr in die Höhe sprudelt, wie in den 2000er-Jahren ist eine Herausforderung. Da entwickelt sich eine Schere aus stärker steigenden Ausgaben für Behandlungen und nicht gleich stark steigenden Einnahmen. In den Nullerjahren und 10er Jahren hat uns das Wirtschaftswachstum geholfen, aber in 20er Jahren haben wir eine Prognose von 0,5 bis 0,7 % pro Jahr. 

Und weiter? Wir haben ein Mindset in der Bevölkerung geschaffen, dass Medizin nichts kostet. Ich sehe eine gewisse Unkultur Richtung „es steht mir zu, egal ob medizinisch indiziert und was es kostet“. Das System baut aber auf die Solidargesellschaft. Die medizinische Notwendigkeit sollte vermehrt in den Fokus rücken. CT- und MRT-Untersuchungen sollten etwa stärker an die wissenschaftliche Evidenz gekoppelt werden. Ärzte sollten beispielsweise eine höhere Endbehandlungsrate haben und auch die Patienten müssten wieder mehr Eigenverantwortung übernehmen. Wir sollten ärztlichen Fachgesellschaften stärker einbeziehen und den Versorgungsauftrag stärker an die Entwicklungen der Medizin koppeln, um nicht veraltete Leistungen im System zu behalten, die dann neue blockieren.  

All diese Herausforderungen kommen nicht wirklich neu daher. Wie sehen Ihre Antworten aus? Das ist ja da Problem. Manches wissen wir seit 65 Jahren, trotzdem geht die Diskussion immer noch nicht über die Zukunft und über das große Ganze. Zum einen: Vorsorgen ist besser als heilen – wir müssen den Fokusdarauf setzen, dass wir handeln, bevor wir krank sind. Gesundheit entsteht nicht beim Arzt, sondern durch mehr Bewegung, ausreichende Balance – auch im mentalen Bereich –, und gesunde Ernährung. Dazu müssen wir die Menschen gesundheitskompetenter machen. Die Ärztekammer Steiermark hat hier etwas Gutesgemacht – Broschüren für Eltern, wann man mit Kindern zum Arzt gehen muss und wann (noch) nicht. Wir sollten auch Anreize setzen – ähnlich dem SVS-Modell. Und wir müssen auch noch viel stärker mit der Wissenschaft kooperieren, wo wir niederschwellig Maßnahmen setzen können und schauen, welche Therapien es noch braucht beziehungsweise welche durch neue bereits überholt sind. Es braucht zudem eine Finanzierung aus einer Hand, wo das Geld der medizinischen Leistung folgt. Diese Diskussion gibt es seit 20 Jahren, seit dieser Zeit wissen wir bereits, dass die Architektur des Gesundheitswesens bröckelt. Außerdem braucht es mehr Innovation und Selbstverantwortung. Der Vorschlag der Salzburger Landeshauptfrau Karoline Edtstadler (ÖVP), die gesamten Gesundheitsagenden an den Bund zu übertragen und Erkenntnis auch anderer Landeshauptleute, befeuert meine Hoffnung, dass es zu einem großen Schritt kommenkönnte. 

Wie soll dieser genau aussehen? Wir hatten beispielsweise im ersten Quartal im niedergelassenen Bereich ein Plus von sieben Prozent bei den Arztbesuchen und seit 5 Jahren sinkende Belagstage in den Spitälern – in den letzten 5 Jahren minus 15 Prozent bei rapide steigenden Kosten im Spital. Die Patienten zieht es raus aus dem Spital, aber die Finanzierung wandert nicht mit. Es muss ehrlich und gemeinsam geplant werden. Die zersplitterte Kompetenzlage führt leider dazu, dass viele Leistungen aktuell nicht dort erbracht werden, wo sie am sinnvollsten erbracht werden sollten. Notwendig ist die Bereitschaft aller Systempartner, die Finanzierung, die Steuerung und die Planung medizinischer Leistungen auf neue Beine zu stellen, in eine Hand zu geben und zu entpolitisieren – nach einem neuen Prinzip „selbst vor digital vor ambulant vor stationär“. Ich bin hoffnungsfroh, was eine Neugestaltung des Gesundheitswesens über die nächsten fünfJahre betrifft mit einem Einkäufer auf Bundesebene gibt, der nach einer durch Fachleute erstellten Versorgungsplanung einkauft. Es gibt einen Common Sense, dass zusätzliche Lohnnebenkosten, auszuschließen sind, um die Wettbewerbsfähigkeit der österreichischen Unternehmen international nicht zu gefährden. Wir müssen also schauen, dass wir effizienter werden und besser steuern. 

Welche Pläne gibt es konkret fürs kommende Jahr? Als Sozialversicherung ist es uns gelungen, mit einer neuen Form der Versorgung mit längeren Öffnungszeiten wie in Primärversorgungseinheiten österreichweit zusätzliche Produktivität zu schaffen. Wir haben dafür im Bereich der Primärversorgungseinheiten ein gutes Beispiel, das jetzt zu einem Selbstläufer wird. Ärzte und Ärztinnen wollen in solche Angebote und wir bekommen aus zwei Arztstellen oft die Produktivität von vier Arztstellen raus. Ein zentrales Thema wird die Patientensteuerung. Da wird man ein Modell schaffen, wo man Anreize schafft, den niederschwelligeren Zugang zu wählen – oder wo ein Primärversorger sagt, wo man hingehen darf. Wir werden auch Innovationen im Bereich Telemedizin nutzen – so können wir auch Arztordinationen entlasten. Im Bereich Digitalisierung war Österreich international gesehen eigentlich immer Innovationsvorreiter. Das wollen wir weiter sein. Wir brauchen im System auch mehr Produktivität und Wirksamkeit. (Das Interview führt Martin Rümmele)