Geriatrie in Österreich: „Viel Luft nach oben“ 

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Geriatrie-Expertin Regina Roller-Wirnsberger von der MedUni Graz spricht im RELATUS-Sommergespräch über Versorgungslücken, gelungene Ansätze und den dringenden Reformbedarf.

Wir werden immer älter, aber nicht unbedingt gesünder. Ist das Gesundheitswesen darauf vorbereitet? Nicht wirklich. Wir haben große Versorgungslücken. In der Primärversorgung wird gute Arbeit geleistet, aber die Rahmenbedingungen fehlen, um wirklich auf die Bedürfnisse der Patient:innen eingehen zu können. Im stationären Bereich sieht es nicht besser aus. Spitäler sind oft der schlechteste Ort für geriatrische Patient:innen. Es fehlt an Kommunikation, an Advanced Care Planning, die elektronische Gesundheitsakte ELGA erlaubt kaum interprofessionelle Vernetzung. Und drittens fehlt in Österreich eine strukturierte geriatrische Phase-2- und Phase-3-Reha – hier besteht großer Entwicklungsbedarf. Das Hauptproblem im Bereich Geriatrie ist aber nochmal ein anderes.

Nämlich? Der Verlust an sozialer Teilhabe. Wenn ältere Menschen sich nicht mehr in der Gesellschaft beteiligen können, werden sie pflegeabhängig – ein hausgemachtes Unglück, das vielfach vermeidbar wäre. Unser Gesundheitssystem ist reaktiv und diagnosezentriert, es fehlt ein ganzheitlicher Blick. Wir müssen uns fragen: Was braucht es, damit jemand zu Hause bleiben kann? Und sind die Ressourcen dafür vorhanden? Ein weiteres Thema ist „Ageism“, also Altersdiskriminierung, die in unserer Kultur tief verankert ist. In anderen Gesellschaften bedeutet Alter Wertschätzung, in unserer oft das Gegenteil. Das ist ein kulturelles Problem, dem wir uns dringend stellen müssen.

Wie wirkt sich das auf die Versorgung aus? Ich sehe täglich sowohl Über- als auch Unterversorgung älterer Menschen in Österreich. Ich arbeite derzeit mit einer großen Forschungsgruppe an versorgungsrelevanten Modellen. Der Kernpunkt ist die Entwicklung und Implementierung integrierter Versorgungskonzepte. Dazu muss man sich folgende Fragen stellen: Welche Auswirkungen wird die demografische Entwicklung in einer Region haben? Wie begegnet man dem Ärzt:innenmangel am Land? Unser Ziel ist es, niederschwellige Strukturen zu schaffen, regional wie überregional, in einem Gesamtkonzept. Wir würden uns von der Politik mehr Bewusstsein für die Geriatrie wünschen.

Abgesehen von fehlendem Bewusstsein – woran scheitert es derzeit noch? Die fragmentierte Gesundheitsversorgung ist ein großes Problem – nicht nur in Österreich. Im Gegensatz zur integrierten Versorgung, von der vor allem Menschen mit komplexen gesundheitlichen Bedürfnissen profitieren würden, fehlt es an abgestimmten, strukturierten Abläufen. Das betrifft nicht nur geriatrische Patient:innen, sondern etwa auch Menschen mit Dialysebedarf und andere. Multimodale Betreuung muss geplant werden – sektorenübergreifend.

Was kann kurzfristig getan werden? Es braucht Bewusstseinsbildung – nicht nur in der Politik, sondern auch in der Ärzt:innenschaft. „One size fits all“, ein einheitliches Versorgungskonzept für alle, funktioniert in der Geriatrie nicht. Oft schadet man mehr als man hilft. Auf EU-Ebene passiert derzeit viel, aber in Österreich ist das Engagement leider begrenzt. Ein weiteres strukturelles Problem hierzulande ist die Ausbildung. Die Aufnahme geriatrischer Inhalte in den Lernzielkatalog der medizinischen Ausbildung war ein wichtiger Schritt. Aber es gibt nur wenige Lehrveranstaltungen und kein eigenes Sonderfach Geriatrie und in der weiteren postgraduellen Ausbildung von Ärzt:innen – nur eine Spezialisierung, die kaum jemand durchläuft, weil sie lange dauert.

Was würden Sie also ändern? Wir brauchen ein Sonderfach Geriatrie, damit sich mehr Ärzt:innen dafür entscheiden. Ich bin derzeit die einzige Professorin für Geriatrie an einer öffentlichen Uni in Österreich. Erst jetzt wird an der MedUni Wien ein Lehrstuhl für Gerontologie eingerichtet. Neben der fehlenden Akademisierung in der Geriatrie und den schon angeführten Strukturellen Herausforderungen der medizinischen Versorgung alter Menschen in Österreich, ist ein weiterer Brennpunkt die Betreuung in Langzeitpflegeeinrichtungen. Hier stehen wir vor der Situation, dass durch die rechtlich zugesicherte freie Arztwahl oftmals viele Kolleg:innen in einer Einrichtung zusammen mit der lokalen Pflege tätig werden. Oftmals müssen hier lange Anfahrtswege überwunden werden. Pflegeheime sind die komplexesten Versorgungseinrichtungen, dort braucht es dauerhafte ärztliche Betreuung. Kurz gesagt: In der geriatrischen Versorgung in Österreich gibt noch sehr viel Luft nach oben.

Gab es in den vergangenen Jahren auch positive Entwicklungen? Ja, es gibt Fortschritte. Unsere Abteilung für Akutgeriatrie leistet beispielsweise hervorragende Arbeit. In Österreich existiert für den Bereich Akutgeriatrie außerdem seit einigen Jahren ein Benchmarking-System, das von der Steiermark koordiniert wird – ein wertvolles Instrument für Vergleich und Austausch sowie Qualitätssicherung in der Versorgung. Besonders positiv ist, dass das Land Niederösterreich nach langem Zögern nun Akutgeriatrien in Spitalsverbünden mitplant. In Vorarlberg zum Beispiel fehlt das leider noch komplett. Kärnten nimmt eine Vorreiterrolle mit mobilen multiprofessionellen Teams ein, die zu Patient:innen nach Hause fahren – ein sehr gutes Modell. Was uns allerdings fehlt, sind entsprechende Förderschienen für die wissenschaftliche Begleitung solcher Projekte. (Das Interview führte Katrin Grabner)