„Hoher Druck in Kassenordination“

© go4live/ Maximilian Mandl

Gesundheits- und Sozialministerin Korinna Schumann (SPÖ) skizziert im RELATUS-Interview wie das Gesundheitswesen reformiert werden soll und welche Rolle Kassenärzt:innen künftig spielen können. 

Die Situation im Gesundheitswesen ist angespannt: Ländern und Kassen fehlt Geld. Was sind Ihrer Meinung nach die Ursachen? Die angespannte finanzielle Lage ist vor allem das Ergebnis mehrerer langfristiger Entwicklungen: einer alternden Bevölkerung, einer steigenden Zahl chronischer Erkrankungen, wachsender Anforderungen an Qualität und Erreichbarkeit sowie den Kostensteigerungen der jüngsten Vergangenheit bei Personal, Energie und Infrastruktur. Gleichzeitig wurden in den vergangenen Jahren viele Herausforderungen nicht systematisch angegangen. Unsere Aufgabe ist es jetzt, gemeinsam mit Ländern, Kassen und Leistungserbringer:innen tragfähige Strukturen zu schaffen, die Versorgungssicherheit und Solidarität für alle Altersgruppen sicherstellen – und nicht nur kurzfristig Haushaltsposten verschieben. 

Alle Beobachter:innen und auch alle Politiker:innen sind sich einig, dass eine Finanzierung aus einer Hand sinnvoll wäre. Es scheint, als möchte aber niemand den Einfluss aufgeben. Was kann eine Lösung sein? Ich sehe eine einheitliche Finanzierung aus einer Hand nicht als Selbstzweck. Eine solche würde zentrale Probleme nicht automatisch lösen – das müssen wir uns schon erarbeiten. Den Menschen ist egal, wie das System organisiert ist, es muss funktionieren. Entscheidend ist vielmehr, wie gut die Akteur:innen tatsächlich zusammenarbeiten. Genau hier setzt die Reformpartnerschaft Gesundheit an, in der Bund, Länder und Sozialversicherung gemeinsam Verantwortung übernehmen und Reformen auf Augenhöhe verhandeln. Was wir brauchen, sind verbindliche Kooperationsmodelle, klare gemeinsame Ziele und transparente Entscheidungsprozesse, die dann auch konsequent in den Regionen umgesetzt werden. Aus diesen Gründen kann ich dem Modell der Gesundheitsregionen viel abgewinnen: Sie ermöglichen es, die Stärken aller Ebenen zu bündeln, regionale Unterschiede zu berücksichtigen und Reformen dort wirksam werden zu lassen, wo Versorgung konkret stattfindet – bei den Menschen vor Ort. 

Der Ausbau der Primärversorgung gilt als Königsweg. Unklar ist wie: Sollen PVE Spitäler entlasten, wie das die Länder wollen, oder den niedergelassenen Bereich stärken? Was sollen PVE Ihrer Meinung nach wirklich leisten? Und welche Rolle sollen künftig Einzelpraxen spielen – die bisher 95 % der niedergelassenen Versorgung abdecken? Der Ausbau der Primärversorgungseinheiten ist zentral, weil sie niederschwellig, multiprofessionell und koordinierend wirken – sie können Wartezeiten senken und helfen, Spitäler sinnvoll zu entlasten. Wir haben die Zahl der PVE in den vergangenen Jahren deutlich erhöht und wollen weitere etablieren. Gleichzeitig bleibt die Einzelpraxis ein wesentlicher Teil der Versorgung, besonders in ländlichen Regionen. Die Zukunft liegt in einem vielfältigen Versorgungsmix, bei dem PVE, Gruppenpraxen und Einzelpraxen sich ergänzen und gemeinsam patientenorientierte Versorgung sicherstellen. 

Die SPÖ will junge Mediziner:innen ins Kassensystem bringen. Aktuelle Daten der ÖGK zeigen – es gibt rund dreimal so viele Junge mit Kassenvertrag wie noch vor 15 Jahren. Im Alter ab 45-50 Jahren sinken allerdings die Zahlen der Kassenverträge. Warum geben so viele Ärzt:innen nach 15 bis 20 Jahren ihre Kassenverträge zurück? Wie muss man hier gegensteuern? Ein Grund ist, dass der Beruf in der Kassenordination unter hohem Druck steht und oft wenig Zeit für Patient:innen bleibt, wie es viele Ärzt:innen sich wünschen. Das gilt besonders für erfahrene Kolleg:innen, die familiäre und berufliche Anforderungenneu ausbalancieren müssen. Wir müssen Rahmenbedingungen schaffen, die attraktive, planbare und familienfreundliche Vertragsformen, etwa die angesprochenen PVE, mit modernen Arbeitszeitmodellen ermöglichen. Gleichzeitig wollen wir auch entsprechend dem Grundsatz „digital vor ambulant vor Stationär, die Möglichkeiten der Telemedizin ausbauen.  

In den Bundesländern wachsen Proteste bei Gesundheitsbeschäftigten und Patient:innen. Warum gelingt es nicht, bei Reformen die Betroffenen einzubinden und auch zu überzeugen? Reformen im Gesundheitswesen greifen tief in Arbeitsabläufe und in das Sicherheitsgefühl der Menschen ein. Wenn Entscheidungen unter finanziellen Druck getroffen werden und Kommunikation erst spät beginnt, entsteht schnell der Eindruck, dass über Betroffene hinweg entschieden wird. Ich verstehe den Unmut vieler Beschäftigter und Patient:innen, weil sie spüren, dass es in manchen Bereichen nicht rund läuft. Wir arbeiten daher bewusst über die Reformpartnerschaft Gesundheit – also im konstruktiven Austausch mit Ländern, Sozialversicherung und anderen Partnern. Natürlich müssen wir aber noch stärker darauf achten, Reformprozesse transparent und partizipativ zu gestalten. 

Gehen die Länder falsche Wege bei Reformen und provozieren sie so Proteste oder muss man das jetzt politisch aussitzen, wie manche Länder meinen? Aussitzen ist keine Option. Proteste zeigen, dass Menschen sich um die Zukunft der Versorgung sorgen. Gleichzeitig stehen Länder vor schwierigen Entscheidungen, weil Nichtstun das System ebenso gefährden würde. Entscheidend ist, dass Reformen klar erklärt und sozial abgefedert werden. Wo das gelingt, entsteht Verständnis – auch wenn Veränderungen nicht immer angenehm sind. (Das Interview führte Martin Rümmele)