Mythos: Personal im Gesundheitswesen fehlt

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Die RELATUS-Redaktion entlarvt in der Serie „Mythen & Fakten“ die gängigsten Scheinargumente im Gesundheitswesen und liefert fundierte Antworten für Diskussionen. 

Die Prognosen sind alarmierend: Bis 2040 werden in Österreich laut Wirtschaftskammer bis zu 28.000 Arbeitskräfte im Gesundheitsbereich fehlen. Auch international zeigt sich ein ähnliches Bild: In Deutschland fehlen 50.000 Ärzt:innen, in Italien mindestens 20.000 Ärztinnen und 70.000 Krankenpflegekräfte im öffentlichen Gesundheitswesen. In Österreich werden bis 2030 Schätzungen zufolge zudem bis zu 90.000 zusätzliche Pflegekräfte benötigt, um den Status quo zu halten, wobei der Bedarf in der Langzeitpflege besonders hoch ist und die Versorgungssicherheit gefährdet. 

Allerdings steigt die Zahl der Beschäftigten im Gesundheitswesen insgesamt. Gab es 2015 noch 90.907 nichtärztliche Gesundheitsbeschäftigte in Österreichs Spitälern, waren es 2024 laut Statistik Austria 101.403 Personen. Auch bei den Ärzt:innen lohnt sich ein genauerer Blick auf die Zahlen und auf die Strukturen. Die Statistik Austria weist für 2024 rund 52.000 tätige Ärzt:innen in Österreich aus. Das entspricht einer Dichte von 565 Ärzt:innen pro 100.000 Einwohner:innen. Zum Vergleich: 2015 lag dieser Wert noch bei 506. Rückläufig ist lediglich die Anzahl der Allgemeinmediziner:innen hierzulande, während jene der Fachärzt:innen gestiegen ist. Laut einem OECD-Länderprofil hatte Österreich im Jahr 2021 sogar die zweithöchste Ärztedichte innerhalb der EU. 

Ärztinnen gibt es also genug – nur nicht im Kassensystem. Neue Daten der Österreichischen Gesundheitskasse zeigen: Viele Kassenärzt:innen verlassen zwischen dem 45. und 55. Lebensjahr das öffentliche System und eröffnen eine Wahlarztordination. Entgegen der häufig geäußerten Behauptung liegt das Problem jedoch nicht beim ärztlichen Nachwuchs, im Gegenteil: Ärzt:innen im Alter zwischen 30 und 35 Jahren sind heute deutlich häufiger im Kassensystem tätig als noch 2011 – im Jahr 2025 waren es sogar zwei- bis dreimal so viele. 

Quelle: ÖGK

Da erscheint eine Verpflichtung, nach dem Medizinstudium eine Zeit lang im öffentlichen Gesundheitssytem und mit Kassenvertrag zu arbeiten, überflüssig. Im Herbst 2025 war eine solche „Arbeitspflicht“ von SPÖ-Chef Andreas Babler gefordert worden, um die bundesweit 300 unbesetzten Kassenärzt:innen-Stellenbesetzen zu können. Davor hatte Wissenschaftsministerin Eva-Maria Holzleitner (SPÖ) von einer Verpflichtung gesprochen und gemeint, wer kostenlos an einer öffentlichen Medizinischen Universität studiert habe, solle diese als „solidarischen Beitrag“ sehen, der im Gegenzug zu leisten sei.  

Österreich hat also kein Problem mit zu wenigen jungen Ärzt:innen, die ins Kassen-System gehen wollen, sondern mit unattraktiven Arbeitsbedingungen, besonders im ländlichen Bereich. Laut Ärztekammer stieg die Zahl jener Mediziner:innen, die vom Kassen- ins Wahlarztsystem wechselten, zwischen 2015 und 2025 von rund 9.300 auf fast 11.800, also um rund 2500 Personen. Um dieser Entwicklung gegenzusteuern, fordern Ärztevertreter:innen ein Ende der Fünf-Minuten-Medizin, Bürokratieabbau, eine Honorierung ärztlicher Leistungen im Bereich der Zuwendungsmedizin und familienfreundliche Arbeitsmodelle. 

Während die Ärzte „nur“ im Kassensystem fehlen, stellt sich die Personalsituation in der Pflege gravierend dar. Hier herrscht flächendeckend akuter Personalmangel  bei gleichzeitig steigendem Bedarf durch die demografische Entwicklung. Die Gewerkschaft Öffentlicher Dienst bezifferte den Mangel im Jahr 2023 auf 2.125 Pflegepersonen (Vollzeitäquivalente) sowie 2.775 gesperrte Betten in Krankenanstalten. Besonders betroffen ist die stationäre Langzeitpflege: 2022 waren 1.319 von 12.798 Betten gesperrt. Gleichzeitig zeigt die Pflegebedarfsprognose der Gesundheit Österreich GmbH bis 2050 einen jährlichen Mehrbedarf von österreichweit rund 7.000 Pflegekräften. 

Die Ursachen für diesen Personalmangel sind gut dokumentiert. Eine SORA-Erhebung zeigt hohen Arbeits- und Zeitdruck der Beschäftigten: Fast jede dritte Pflegeperson fühlt sich sehr oder ziemlich stark belastet, 46 % berichten von hoher seelischer Belastung, 14 % von körperlicher Belastung. Den „ständigen Arbeitsdruck ohne Zeit zum Verschnaufen“ halten 24 % für sehr belastend und 18 % sind vom ständigen Wechsel der Arbeitsabläufe stark gefordert. Laut der Misscare-Austria-Studie von 2022 denken 75 % der Befragten zumindest zeitweise über einen Ausstieg aus dem Pflegeberuf nach. Hinzu kommt die enorme Verantwortung. Das Pflegereporting der Gesundheit Österreich GmbH zeigt: Rund 39 Prozent der Pflegepersonen leiden stark unter dieser Verantwortung – in anderen Berufsgruppen sind es lediglich 10 Prozent. Auch das Burnout-Risiko ist überdurchschnittlich hoch: 19,5 Prozent der Pflegekräfte gaben 2023 an, selbst davon betroffen gewesen zu sein. Bei den übrigen befragten Berufsgruppen lag dieser Wert gesamt bei 11,9 %.  

Die seelische Belastung ist bei Ärzt:innen ähnlich und hat in der Fachwelt einen Namen: „Second Victim“. Der Begriff beschreibt eine an der Patientenversorgung beteiligte Person, die durch eine außergewöhnliche Situation in der Versorgung, etwa einen unvorhergesehenen Zwischenfall, selbst traumatisiert wird. Wird das Erlebte nicht aufgearbeitet, kann die betroffene Person psychische und physische Krankheitssymptome entwickeln, die zu Arbeitseinschränkungen, Krankenständen und folglich zum Berufsausstieg führen. „Bei uns ist es vollkommen normal, dass man nach einem Todesfall aus dem Operationssaal geht, einen Kaffee trinkt und dann den nächsten Patienten operiert“, berichtet etwa die Herzchirurgin und ehemalige Vizepräsidentin der Kärntner Ärztekammer Petra Preiss. „Es gibt keine Ablöse im Dienst, man macht weiter.“ „Als Ärztinnen und Ärzte sind wir für die Bevölkerung da, aber auf uns schaut niemand“, äußerte sich auch eine andere Wiener Ärztin zu diesem Thema. „Was in der Psychotherapie und Psychiatrie normal ist, nämlich dass man Supervision und regelmäßig Unterstützung bekommt, gibt es bei anderen Fachrichtungen so nicht. In keiner Spitalsabteilung, in der ich war, wurde auf die mentale Gesundheit des medizinischen Personals geachtet – egal, mit welchen Diagnosen oder Schicksalen man konfrontiert war. Die Arbeit bedrückt, aber es gibt nichts, wo du hingehen, dich aussprechen kannst.“  

Eine Studie der Medizinischen Universität Wien lieferte 2024 Zahlen zu diesem Phänomen: Die im British Medical Journal veröffentlichte Metaanalyse zeigte, dass die Suizidrate unter Ärzten und vor allem Ärztinnen schockierend weit über jenen der Allgemeinbevölkerung liegt – bei den Frauen um ganze 76 %. Eine ähnliche Studie im Pflegebereich belegt zudem, dass rund 82 Prozent der Pflegekräfte nach unerwarteten kritischen Ereignissen unter massivem emotionalem Stress leiden.  

Belastung und Arbeitsstress führen zu steigenden Fluktuationsraten bei medizinischem Personal. Dazu kommt der steigende Kostendruck. Das Gesundheitssystem muss sparen – und tut dies vorrangig an den Personalkosten. Ein Beispiel: Der neue 2024 fixierte monatliche Brutto-Mindestlohn für Beschäftigte in Privatkliniken liegt bei 2.000 Euro – das sind 1.567,04 Euro netto pro Monat oder bei einer 39-Stunden-Woche 9,28 Euro netto pro Stunde. In Städten wie Wien, wo die Monatsmiete für eine 50-Quadratmeter-Wohnung im Arbeiterbezirk Rudolfsheim-Fünfhaus im Jahr 2024 laut Immobilienpreisspiegel durchschnittlich rund 930 Euro kostete, ist das kaum existenzsichernd. Auf Dauer werden sich dafür keine 28.000 Gesundheitsbeschäftigte finden lassen.  

Fazit: Personal fehlt – bei Ärzt:innen im Kassensystem wie bei Pflegekräften. Schlechte Arbeitsbedingungen und unzureichende Bezahlung führen zur Abwanderung aus dem öffentlichen Gesundheitswesen. Ein krankes System, das seine Beschäftigten krank macht, droht auf Dauer zu kollabieren. Wer langfristig Arbeitskräfte gewinnen will, muss an den Ursachen ansetzen und die Berufe im Gesundheitsbereich nachhaltig attraktiv machen. (tab)