„Wir empfangen Signale, dass etwas passiert“

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Elisabeth Potzmann ist Präsidentin des Österreichischen Gesundheits- und Krankenpflegeverbandes. Im Relatus-Sommergespräch spricht sie über Auswege aus der Pflegekrise.

Was macht den Pflegeberuf für Sie schön und empfehlenswert? Es ist die unendliche Vielfalt, die unglaublichen Spaß macht. Man kann sich alle paar Jahre neu erfinden, wenn man möchte, oder auch in Nischen Erfüllung finden. Ich wüsste nicht welcher Beruf das in dieser Dimension sonst noch bietet. Es kommt aber sehr darauf an, aus welchem Blickwinkel wir das betrachten. Wenn wir rein von der Motivationstherorie kommen, wie das Management und Politik in den öffentlichen Debatten tun, machen klassische Hygienefaktoren, wie ausreichend Geld zu verdienen und eine sichere Arbeit zu haben, den Beruf empfehlenswert. Beides gilt für den Pflegeberuf durchaus. Aber es gibt auch andere Faktoren: sich einbringen zu können, sich verwirklichen und wachsen zu können. Diese Felder bietet die Pflege in einer Dimension, die man zu Beginn gar nicht erwartet. Jene, die das zu nutzen verstehen, sind auch jene, die sehr zufrieden sind und auch gerne hierbleiben. Es ändert sich auch das Feld der Arbeit ständig, es gibt laufend neues Wissen. Das kann ebenfalls motivierend wirken, es bedeutet aber auch, dass man ständig dranbleiben und lebenslang lernen muss. Wenn das nicht gelingt, oder vom Arbeitgeber nicht ermöglicht wird, kann man den Anschluss verlieren und geht dann raus aus dem Beruf.

Oft ist allerdings von Beschäftigten zu hören, dass gerade für die bereichernden Dinge, wie den persönlichen Kontakt, zunehmend die Zeit fehlt. Ist das so? Ja, es geht sich zunehmend weniger aus, weil im System ein Personalmangel fahrlässig produziert worden ist. Vor allem, weil die richtigen Maßnahmen nicht ergriffen wurden. Ein Grund ist, dass die Schritte, die man ergreifen muss, langfristige Maßnahmen sind. Die Politik fokussiert allerdings immer mehr auf kurze Ziele – Quick Wins mit der Frage, wo kann ich punkten und auch ernten. Präventionsmaßnahmen greifen aber erst in zehn bis 20 Jahren und erfordern heute Investitionen. Da geht es um Ausbildung und die Senkung des Bedarfes – etwa durch Gesundheitsfördungsmaßnahmen. Wir brauchen in Österreich auch mehr gesunde Lebensjahre, damit wir weniger Pflege brauchen. All das erfordert langfristiges Denken und auch eine generelle Reform der Strukturen im Gesundheitssystem.

Welche könnten das sein? Wir müssen eine andere Gesundheitsstruktur andenken und die vorgelagerten und nachgelagerten Systeme neu konzipieren. Derzeit ist in der Versorgung zwischen Basisversorgung, also – überspitzt formuliert – zwischen Hausarzt und AKH nichts. Auch wenn jemand nach einem Aufenthalt im AKH rauskommt, ist nichts. Jemand muss also mobil sein und gesund, damit er oder sie sich versorgen und nach Hause gehen kann. Deshalb bleiben viele Menschen im Akutbereich, was hohe Personalressourcen bindet. Es braucht mehr Zwischenversorgungen. Über solche Strukturen müssen wir verstärkt nachdenken. Es gibt aber auch den Faktor, dass die Pflege schlecht politisch organisiert ist und aus ihrer beruflichen Sozialisation heraus gewohnt ist, zu dulden. Die Pflege hat keine Tradition sich politisch zu organisieren und zu kämpfen.

Es gibt allerdings den Gesundheits- und Krankenpflegeverband – was sind Ihre Aufgaben? Als größte Berufsvertretung vertreten wir alle im Gesundheits- und Krankenpflegegesetz abgebildeten professionellen Pflegeberufe – Pflegeassistenz, Pflegefachassistenz und Gehobener Dienst (Diplomierte) und da unabhängig, wo sie arbeiten. Wir haben in Österreich ein Register für Gesundheitsberufe, das zwar unscharf ist, weil manche sich nicht abmelden, aber es gibt etwa 170.000 Menschen, die in professionellen Pflegeberufen arbeiten – davon rund 110.000 im Gehobenen Dienst.

Und wie sieht es in anderen Bereichen aus, wo Menschen in der Pflege oder Betreuung arbeiten? Gibt es da einen Überblick? Wir wissen in Österreich nicht genau, wer aller außerhalb der ausgebildeten Berufe tätig ist. Wir kennen die 24-Stunden-Betreuung, wo die Wirtschaftskammer zuständig ist. Das sind rund 58.000 Menschen. Wir kennen aber nicht jene, die nicht zu den Gesundheitsberufen gehören und nicht im Register sind. Dazu gehört etwa der Bereich der Behindertenbetreuung oder auch die Heimhilfe, die viele Bereiche abdeckt. Dann gibt es noch die sogenannte Unterstützung in der Basisversorgung (UBV), die auch eine Ausbildung hat. Das sind Menschen, die in ganz basaler Unterstützung tätig sind – etwa in der Unterstützung im Haushalt, beim Einkaufen und als Begleitung. Das ist sicher eine große Zahl, die mir aber unbekannt ist. Das ist auch ein Feld, von dem aus Menschen oft eine Karriere in die Pflege hineinstarten. Organisationen wie etwa das Rote Kreuz, die alle Bereiche beschäftigten, betreiben diesen Karriereweg intern aktiv. Strukturell politisch fühlt sich aber kaum jemand dafür zuständig. Das ist meist eine Landes- und Trägersache und eine individuelle Angelegenheit.

Ein Thema im Hinblick auf Karriere ist, dass das Diplom jetzt über Fachhochschulen läuft, deren Grundvoraussetzung die Matura ist. Schließt das nicht viele Menschen aus, die etwa aus der UBV kommen? Das ist so nicht richtig. Jene, die schon aus der Pflege kommen, können mit Fachprüfungen einsteigen ohne Matura gemacht zu haben. Das finde ich positiv, weil es eine Chance ist, in die akademische Karriere einzusteigen. Natürlich haben wir nach wie vor den Bildungslift, wo die Matura eine zentrale Rolle spielt. Umgekehrt wollen Menschen nach der Matura nicht einen Schritt zurück machen und sich in der Bildungslogik weiterentwickeln können. Deshalb ist es aus dieser Sicht her klug, die Ausbildung zum Gehobenen Dienst auf tertiärer Ebene zu verankern. Die Herausforderungen im Gesundheitssystem werden auch immer höher und wir brauchen auch jene, die einen Gesamtüberblick über die Situation haben und etwa in der Pflegeversorgung selbstständig arbeiten können. Man muss aber nicht Matura haben um in der Pflege zu arbeiten. In den Assistenzberufen liegt der Verdienst mitunter oft gar nicht so viel unter dem Gehobenen Dienst.

Die Politik setzt stark auf die Angehörigenpflege, um „solange zuhause bleiben zu können, wie möglich“. Die Laienpflege zu stärken ist wichtig. Nur darauf zu bauen, sehe ich kritisch. Das ist ein sehr brüchiges Konzept. Wir können uns als Gesellschaft nicht einfach darauf verlassen, dass Menschen zu Hause gepflegt werden. Wir können nicht die Pflege nur auf die Kinder oder Partner:innen aufbauen. Häufig sind es die Partner solange es Partner gibt, und die sind selbst meist schon ältere Menschen. Meist sind es die Frauen und es hat leider Tradition, dass Care Arbeit unhinterfragt von Frauen erledigt wird. Viele dieser Menschen sind auch nicht gewohnt sich Hilfe zu holen. All das ist brüchig. Wir haben zudem etwa in den Städten 50prozentige Scheidungsraten. Da kann man sich als Gesellschaft nicht darauf verlassen, dass das auf Dauer gut geht.

Welche Schritte wünschen Sie sich von der Pflege und von der Politik? Um raus zu kommen, muß man Forderungen stellen. Das haben wir in der Pflege wenig gemacht in den vergangenen Jahrzenten. Das Selbstbewusstsein und der Berufsstolz waren wenig entwickelt. Was ich wahrnehme auch durch die Pandemie ist, dass die Pflege ihren Stellenwert zunehmend erkennt. In Vergangenheit haben wir nicht gekämpft, sondern so lange gearbeitet, wie es ging und wenn es nicht mehr ging, sind wir aus dem Beruf rausgegangen. Wir müssen auch für uns einstehen und für uns kämpfen. Wir dürfen nicht warten, dass es wer anderer für uns tut – das wird nicht passieren. Wenn wir das tun, geben wir der Politik die Möglichkeit, darauf zu reagieren. Auch dort gibt es wie in breiten Teilen der Bevölkerung eine eingeschränkte Vorstellung darüber, was Pflege alles macht und kann. Die Schwierigkeit ist zudem, dass die Zuständigkeiten zwischen Bund, Ländern und Träger unterschiedlich verteilt sind. Da muß man dranbleiben und darf nicht erwarten, dass gleich große Dinge passieren. Wir empfangen aber jetzt die Signale, dass etwas passiert. Die jüngsten Reformen reichen natürlich noch nicht aus, aber sie sind jetzt ein wichtiges Signal, das heißt: „Wir sehen euch.“ (Das Gespräch führte Martin Rümmele)