„Armut ist das Leben, mit dem niemand tauschen will“

Martin Schenk, stellvertretender Direktor der Diakonie und Mitbegründer der Armutskonferenz, erklärt, welche Folgen Armut und Pandemie für die Gesundheit der Menschen haben.

Teuerungen und Ukrainekrieg rücken die Pandemie aktuell in den Hintergrund. Die Folgen der Pandemie werden aber erst sichtbar. In welchem Ausmaß hat Corona, die sozialen Probleme und Unterschiede beeinflusst? Eine Pandemie ist eigentlich immer eine „Syndemie“. Das Geschehen ist geprägt von Wechselwirkungen, von Verstärkungen zwischen sozialen, ökonomischen, psychischen und physischen Kräften. Der Schlaf ist ein guter Indikator für Stress und Belastung, ein Brückenkopf zwischen innen und außen. Arbeitslose Personen und Menschen mit geringem Einkommen schlafen am schlechtesten im Vergleich zu anderen Bevölkerungsgruppen. Pensionist:innen, denen man am ehesten Schlafprobleme zuordnen würde, schlafen in Corona-Zeiten besser als Personen mit Existenzsorgen. In Großbritannien, einem der Vergleichsländer des Austrian Corona Panels, ist übrigens die Schlafqualität während der Corona-Krise allgemein viel schlechter als in Österreich. Das deutet auf unterschiedliche Wahrnehmung und Realitäten sozialer Sicherheit hin. Wie prekär ist meine ökonomische Situation, wie tief falle ich bei Arbeitslosigkeit und Krise? Großbritannien hat in den vergangenen Jahrzehnten viel stärkere Einschnitten im Sozialen getätigt und weist einen weit prekäreren Arbeitsmarkt als Österreich auf. Die Verhältnisse gehen unter die Haut und schneiden sich in die Körper.

Ein anderes Thema war die soziale Isolation – mit welchen Folgen? Unfreiwillige Einsamkeit macht krank und belastet unseren Alltag. Wir sprechen hier nicht vom selbst gewählten Alleinsein, das uns im Fasten oder Schweigen Kraft gibt. Wenn die Freiheit fehlt, über Nähe und Distanz selbst entscheiden zu können, dann kommt es zu Problemen. Sei es, dass zu viel Nähe in beengten und überbelegten Wohnungen die Autonomie verletzt, oder zu wenig an Nähe Menschen sozial isoliert. In Österreich haben sich Arbeitslose, Schüler:innen und Studierende in der Corona-Krise am häufigsten einsam gefühlt. Kinder und Jugendliche sind massiv unter Druck. Wir merken das am Krisentelefon, in mobilen Therapien, Jugendnotschlafstellen oder Wohngemeinschaften. Auch die verfügbaren Daten sprechen eine klare Sprache: Einschlafprobleme, Kopfschmerzen, Niedergeschlagenheit und Bauchschmerzen sind bei Kindern gestiegen. Verschärft wird die Situation durch beengtes Wohnen und geringes Einkommen zu Hause.

Beschäftigte mit Pflichtschulabschluss waren am stärksten von Kurzarbeit und Kündigungen betroffen. Verschärfte die Pandemie die sozialen Gräben? „There was never any lockdown. There was just middle-class people hiding while working-class people brought them things.” So tönt es aus London, wo unter allen Berufen auf den Corona-Sterbetafeln am öftesten „Hilfsarbeiter“ stand. Corona traf die ökonomisch Ärmsten am Arbeitsmarkt, in Familien, als prekäre Ich-AGs oder chronisch Kranke. Das ist auch in Österreich so. Je geringer das Einkommen, desto weniger findet Arbeit im Home-Office statt. Die Auswirkungen hängen stark vom Ausbildungsgrad und Einkommen ab. Überbelegtes Wohnen, niedrige Einkommen und schlechte Jobs kommen da zusammen.

Wie wirken sich Armut und Armutsgefährdung für die Betroffenen aus? Armut setzt sich stets ins Verhältnis. Sie manifestiert sich in reichen Ländern anders als in Kalkutta. Menschen, die in Österreich von 700 Euro im Monat leben müssen, hilft es wenig, dass sie mit diesem Geld in Kalkutta gut auskommen könnten. Die Miete ist hier zu zahlen, die Heizkosten hier zu begleichen und die Kinder gehen hier zur Schule. Deshalb macht es Sinn, Lebensverhältnisse in den konkreten Kontext zu setzen. Armut ein Verhältniswort.

Auch die Teuerung und die Energiekrise belasten derzeit die Menschen – mit welchen Auswirkungen auf die Gesundheit? Armut ist das Leben, mit dem niemand tauschen will. Hier geht es nicht um freiwillig gewählte Armut wie sie etwa von Mönchen oder Asketen praktiziert wird. Den Unterschied zwischen Hungern und Fasten macht die Freiheit. Armutsbetroffene haben die schlechtesten Jobs, die geringsten Einkommen, die krank machendsten Tätigkeiten, leben in den kleinsten und feuchtesten Wohnungen, wohnen in den schlechtesten Vierteln, gehen in die am geringsten ausgestatteten Schulen, müssen fast überall länger warten – außer beim Tod, der ereilt sie um zehn Jahre früher als Angehörige der höchsten Einkommensschicht. Armut ist nicht nur ein Mangel an Gütern, sondern auch an Möglichkeiten. Besonders gefährdet sind Kinder, Frauen im Alter, Alleinerzieherinnen und Langzeitarbeitslose. Mit großen Problemen sind Menschen mit chronischer Erkrankung konfrontiert. Und die hohen Wohnkosten bringen viele an den Rand. (Das Interview führte Martin Rümmele)