Kommentar: Jetzt zeigt sich das Paradoxon der Prävention

Martin Rümmele ist Chefredakteur von Relatus.

Mit der beginnenden Lockerung der Corona-Maßnahmen nimmt die Debatte über deren Ausmaß zu. Es zeigt sich dabei ein altes Problem von Präventionsmaßnahmen: sind sie wirkungsvoll, ist der Grund warum sie ergriffen wurden nicht mehr spürbar.

Was sind die Begleitschäden der Corona-Maßnahmen? Was ist wichtiger: Wirtschaft oder Gesundheit? Was werden die mittel- und langfristigen Folgen sein? Hätte man die Folgen verhindern können? Von einem exponentiellen Anstieg der Erkrankungszahlen und bis zu 100.000 Toten wurde zu Beginn der Maßnahmen gewarnt. Die Zahlen lagen bis heute deutlich darunter. Alles also nur unbegründete Angstmache? Corona zeigt deutlich das Präventionsparadox: Ist eine Maßnahme erfolgreich, ist ihr Nutzen nicht mehr sichtbar – was verhindert worden ist, ist nicht spürbar. „War doch alles nur halb so schlimm“, denken sich viele Menschen.

Der Begriff „Präventionsparadox“ wurde Anfang der 1980er Jahre vom britischen Epidemiologen Geoffrey Rose am Beispiel der koronaren Herzkrankheiten beschrieben, erklärt der Public Health-Experte Martin Sprenger. Es stelle ein grundlegendes Dilemma der bevölkerungs- und risikogruppenbezogenen Prävention dar. Die Kernaussage: Eine präventive Maßnahme, die für Bevölkerung und Gemeinschaften einen hohen Nutzen bringt, bringt dem einzelnen Menschen oft nur wenig – und umgekehrt. Das Paradox gilt für viele Maßnahmen: Lebensstil-Empfehlungen, Impfungen, Früherkennungsmaßnahmen, Maßnahmen der Verkehrssicherheit und der Tabakprävention, oder Maßnahmen des Klimaschutzes. All das wird man seriös diskutieren müssen und nicht einfach darauf hinweisen, dass die befürchtete Krise ausgeblieben ist. Vielleicht war die Sorge unbegründet, vielleicht waren aber auch die gesetzten Maßnahmen extrem erfolgreich. In jeden Fall sehen wir derzeit, dass Österreich im internationalen Vergleich zu jenen Staaten gehört, die besonders gut dastehen.

Welche Kollateralschäden es gibt, wird sich noch zeigen. So dürfte sich etwa die Pandemie deutlich auf die psychische Gesundheit der Menschen auswirken: Die Häufigkeit depressiver Symptome hat sich in Österreich laut den Daten einer repräsentativen Umfrage, welche Experten der Donau-Universität Krems analysiert haben, vervielfacht. Auch Schlafstörungen und Angstsymptome kämen vermehrt vor, teilte die Universität am Dienstag in einer Aussendung mit. Wie die aktuelle Studie „mit einer für Österreich repräsentativen Stichprobe von 1.009 Menschen zeigt, sind in Österreich depressive Symptome von etwa vier Prozent auf über 20 Prozent angestiegen. Eine ähnlich starke Zunahme zeigt sich bei Angstsymptome, die sich von fünf Prozent auf 19 Prozent erhöhten. Zudem leiden aktuell rund 16 Prozent unter einer Schlafstörung“, hieß es in der Mitteilung. Besonders belastend ist die aktuelle Situation für Erwachsene unter 35 Jahren, Frauen, Singles und Menschen ohne Arbeit, während Menschen über 65 Jahre deutlich weniger belastet sind. Aber: Großbritannien, das mit fast 29.000 Todesfällen aufgrund von COVID-19 als eines der schwersten betroffenen Länder innerhalb Europas gilt und sich mit Maßnahmen zuerst zurückgehalten hat, ist auch in Bezug auf die psychische Belastung deutlich schwerer betroffen. Insgesamt leiden 40 Prozent der Befragten in Großbritannien unter einer depressiven Symptomatik. Das Beispiel zeigt deutlich, dass wir eine intensive Forschung über die Folgen der Krise brauchen. Eine verkürzte und populistische Debatte mit dem Vergleich von Wirtschaftskrise und Todeszahlen wird hier nicht ausreichen. (rüm)