Kommentar: Warum die zweite Welle so überrascht  

Martin Rümmele ist Chefredakteur von Relatus.

Kam die zweite Corona-Welle überraschend, oder war Österreich schlecht vorbereitet? Die kommenden Tage werden in jedem Fall eng werden, für alle, die in der Gesundheitsversorgung arbeiten.

Viele Beobachter fragen sich angesichts der rasant steigenden Corona-Fallzahlen, was hinter dem plötzlichen Anstieg steckt. Immer öfters ist der Vorwurf zu hören, dass die Behörden den Sommer nicht genutzt hätten, um Vorbereitungen zu treffen für die zweite Welle. Ähnlich wie im März versucht die Politik mit drastischen Maßnahmen das Ruder herum zu reißen. Umstritten ist unter Experten nach wie vor, wie gefährlich das SARS-CoV-19-Virus ist und welche Maßnahmen die richtigen sind. Unbestritten ist inzwischen, dass sich die Normal- und Intensivstationen in den Krankenhäusern füllen. Und die sind nicht auf so rasche und hohe Fallzahlen vorbereitet, denn in den vergangenen Jahren galt das Credo der Effizienz in den Spitälern. Und das hatte zur Folge, dass seit dem Jahr 2000 österreichweit 14 Prozent der Krankenhausbetten abgebaut worden sind. Am Stärksten traf es Kärnten (-29%) und Wien (-18%). Gleichzeitig sank die durchschnittliche Aufenthaltsdauer. Es galt mit möglichst geringen Mitteln, möglichst viele Patienten in kurzer Zeit zu behandeln. Das rächt sich jetzt.

Hätte man seit dem Frühjahr gegensteuern können? Kaum. Der Aufbau des niedergelassenen Sektors, der die Spitäler entlasten soll, wird seit Jahren diskutiert und verschleppt. Mehr Personal – vor allem Intensivpersonal – lässt sich zudem nicht in wenigen Monaten ausbilden. Hat man nicht auch die Experten gehört? Das ist schwer zu sagen, denn einerseits sitzen etwa in den Ländern und im Gesundheitsministerium sehr wohl höchst qualifizierte Leute. Es deutet aber auch manches darauf hin, dass diese nicht immer gehört worden sind. So kritisieren etwa Beobachter, dass vor allem die ÖVP und Bundeskanzler Sebastian Kurz stark auf die bewährte Strategie der Umfragen gesetzt haben und sich nach der so erforschten Stimmung in der Bevölkerung orientierten: Als Ende März die Bereitschaft der Menschen groß war, Maßnahmen ernst zu nehmen, wurden diese verschärft, obwohl sich eine Entspannung andeutete – der Kanzler zeigte sich als starker Krisenmanager. Als die Menschen der Pandemie überdrüssig zeigten, wurde gelockert und ein entspannter Sommer war möglich. Der wachsende Coronafrust könnte der Grund gewesen sein, warum die ÖVP jetzt lange mit härtere Maßnahmen gebremst hat. Andere wiederum sehen die Maßnahmen durchaus richtig gesetzt – zu einem Zeitpunkt, als sich die Experten jeweils auch weitgehend einig waren, was zu tun ist. Viele Lehren aus dem Frühjahr, wie das Offenhalten der Schulen und der Wirtschaft sowie die Möglichkeiten der Erholung im Freien wurden jetzt gezogen. Anderes, wie der Schutz von Pflegebedürftigen, ist nach wie vor schwierig. Die kommenden Wochen werden jedenfalls zeigen, ob die Maßnahmen reichen. Wichtig ist danach, eine rasche Analyse. Denn immer mehr Experten sind sicher: die zweite Welle wird nicht die letzte Welle sein. (rüm)