„Therapeutische Vielfalt wird in Frage gestellt“

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Arzneimittelengpässe, Forschung, Preisspirale: Im RELATUS-Sommergespräch sagt der neue Präsident des Pharmaverbandes PHARMIG, Mag. Ingo Raimon, wie sich die Branche die Zukunft vorstellt.

Was sind die Herausforderungen für die heimische Pharmaindustrie in den kommenden Monaten?

Ingo Raimon: Es geht um viel, denn es geht um die Zukunft der pharmazeutischen Industrie in Österreich und Europa. „Made in Austria“ beziehungsweise umso mehr ein „Made with Austria-Prinzip“ muss gestärkt werden, wo es nur geht. Österreich muss weiterhin ein guter Standort für klinische Forschung sein. Und wir müssen dringend an der Willkommenskultur für Innovation arbeiten. Denn letztlich muss es darum gehen, die Ergebnisse aus der Forschung, nämlich neue Arzneimittel, auch jenen verfügbar zu machen, die es dringend brauchen: Menschen mit Erkrankungen. Dazu gehört auch, sich anzusehen, unter welchen Bedingungen derzeit Medikamente in die Erstattung gebracht werden, in der Krankenkassen die Kosten für die Therapie übernehmen. Beim Marktzugang zu Medikamenten gibt es Punkte, wo man dringend ansetzen muss.

Wie soll das gehen?

Ingo Raimon: Derzeit wird in der Erstattung eine Preisspirale nach unten gesetzt, die sich ziemlich rasch dreht. Es braucht eine Nutzenbewertung, denn aktuell gibt es eine reine Preisbewertung und das Motto der Erstattung lautet ganz klar: Es muss billiger sein als das, was es schon gibt. Langfristig wird diese Haltung dazu führen, dass das therapeutische Angebot und damit die Auswahl an Medikamenten für die Ärzteschaft und Patient:innen extrem limitiert wird. Wer nur ansatzweise daran denkt, Patient:innen in den Mittelpunkt zu stellen, kann den Marktzugang nicht auf diese Weise gestalten. Es muss darum gehen, therapeutische Vielfalt zu bewahren und zwar im etablierten Bereich – also bei Produkten im patentfreien Bereich – und auch bei den innovativen Arzneimitteln. Ärzt:innen wie auch Patient:innen brauchen diese Vielfalt. Damit wird vielen Menschen die Möglichkeit gegeben, an ihrem sozialen Umfeld aktiv teilzunehmen und auch weiterhin einen aktiven Beitrag zum Sozialsystem zu leisten.

Was fordern Sie?

Ingo Raimon: Es muss darum gehen, den Blickwinkel von Entscheidungsträger:innen in Österreich wieder in die richtige Perspektive zu setzen. Welche Themen bewegen Menschen, weil sie zu unseren Grundbedürfnissen gehören? Nahrung und vor allem auch Gesundheit. Wenn diese beiden Bedürfnisse gestillt sind, ist eine gute Basis für weitere Entwicklung gelegt. Es gibt zahlreiche pharmazeutische Meilensteine, die dazu beigetragen haben, Epidemien zu beenden, die Lebenserwartung deutlich zu erhöhen, Krankheiten zu heilen oder sie zu chronischen Krankheitsbildern abzumildern und ihnen ihren Schrecken zu nehmen, weil sie erstmals rasch und gut behandelbar wurden. Das wird nur zu gerne vergessen, wenn Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträger derzeit auf unsere Branche blicken.

Konkret?

Ingo Raimon: Wir haben seit Jahresbeginn in zahlreichen Gesprächen mit der Politik Empfehlungen abgegeben, was aus unserer Sicht notwendig ist, um den Pharmastandort zu stärken. Als konstruktiver Partner werden wir unsere Expertise weiterhin zur Verfügung stellen, um den Standort und seinen Gesundheitsbereich weiterzuentwickeln. Dabei weisen wir immer wieder darauf hin, dass man sich bei jeder Entscheidung die Frage stellen muss: Trägt die Entscheidung zur Stabilisierung der Arzneimittelversorgung in Österreich bei oder bringt sie noch mehr Dynamik in eine ohnehin volatile Situation?

Man hat den Eindruck, dass viele gesundheitspolitische Akteure die Pharmabranche einschränken wollen – täuscht das?

Ingo Raimon: Was wir derzeit beobachten ist, dass therapeutische Vielfalt in Frage gestellt wird nach dem Motto: Ein Arzneimittel ist genug für eine Erkrankung. Das hat fatale Folgen für Menschen mit chronischen Erkrankungen. Ärzt:innen und Patient:innen brauchen eine therapeutische Auswahl. Denn ein Arzneimittel ist nicht genug, um mit hoher Lebensqualität die Erkrankung über viele Jahrzehnte zu managen. Auch hier kann man die Frage stellen: Führt eine Limitierung zu mehr Stabilität oder bringt sie mehr Dynamik? Mehr Stabilität wird nicht erreicht werden, wenn man sich auf ein bis zwei Anbieter fokussiert. Das hat die Zeit uns erst unlängst gezeigt.

Die Regierung plant eine Bevorratungsverordnung für Arzneimittel als Antwort auf Lieferengpässe. Wie beurteilen Sie diese Pläne?

Ingo Raimon: Zweifellos sind die Gründe für Lieferengpässe vielfältig: Von nicht lieferbaren pharmazeutischen Bestandteilen von Medikamenten über globale Ausfälle in den Lieferketten bis hin zur restriktiven Einkaufspolitik in Österreich. Es muss der klare Auftrag aller Beteiligten im Gesundheitswesen sein, das Thema Versorgungssicherheit zu managen. Doch auf diesem Weg sind gerade beim Thema Bevorratung nach wie vor viele Fragen offen. Zum Beispiel: Welche Produkte oder Wirkstoffe sollen gelagert werden? Wer übernimmt die Lagerung und kommt dafür auch finanziell auf? Was geschieht, wenn Produkte ablaufen? Es ist wichtig, diese Fragen zu klären, und zwar unter Einbeziehung aller Beteiligten. Denn Versorgung bedeutet Verantwortung zu übernehmen und betrifft uns alle. (Das Interview führte Martin Rümmele)