Translationelle Forschung: Mausmodelle und ihre Bedeutung für die translationelle Onkologie

Gen – Maus – Patient

Moderne Krebsforschung ist ohne Mausmodelle nicht vorstellbar. Mausmodelle ermöglichen grundlegende Einblicke in die Entstehung von Tumoren und bieten die Möglichkeit, neue therapeutische Konzepte zu entwickeln und in einem komplexen Organismus zu prüfen. Damit sind sie ein unverzichtbares Bindeglied für eine rasche und gesicherte Umsetzung neuer Erkenntnisse der Grundlagenforschung in therapeutische Konzepte.

Unzählige wissenschaftliche Erkenntnisse und der stetige medizinische Fortschritt wären seit jeher undenkbar ohne die Hilfe von Versuchen an Tieren. Eine zentrale Rolle spielen Tierversuche, wenn es darum geht, neu erworbenes Wissen aus der pharmakologischen und onkologischen Grundlagenforschung in neue Therapiekonzepte für Patientinnen zu verwandeln. Untersuchungen an isolierten Geweben oder primären Zellen helfen Tierversuche zu reduzieren und zu ergänzen. Im Regelfall gibt es aber keine valide Alternative zu Tierversuchen, die in den meisten Fällen im Rahmen der Entwicklung und Zulassung neuer Arzneispezialitäten gesetzlich vorgeschrieben sind. Nur der Tierversuch erlaubt es, die Reaktion des Gesamtorganismus zu erfassen, und ist somit ein unverzichtbarer Bestandteil, wenn es darum geht, die Wirksamkeit und Sicherheit neuer Therapiekonzepte vor ihrem Einsatz im Rahmen kontrollierter klinischer Studien am Patienten/an der Patientin zu prüfen. Die Bedeutung und Notwendigkeit von Tiermodellen ist aber keinesfalls auf die Arzneimittelforschung beschränkt.
Krebs ist eine sehr komplexe Krankheit und entsteht als Folge von genetischen Veränderungen, die sich über mehrere Jahre in der Krebszelle anhäufen. Es handelt sich dabei nicht um die Erkrankung einer isolierten transformierten Zelle, sondern um ein vernetztes Zusammenspiel der entarteten Krebszellen mit ihrer Umgebung. So brauchen solide Tumoren die Anbindung an das Gefäßsytem, um über eine gewisse Größe hinauswachsen zu können, und jeder Tumor wird durch Entzündungsmediatoren sowie durch Immun- und Entzündungszellen beeinflusst; diese können je nach Tumorart und Zusammensetzung sowohl das Tumorwachstum fördern wie auch hemmen. Darüber hinaus steuern Wechselwirkungen unter diesen Zellen die Metastasierung eines Tumors. Einige Tumoren sind von einer ganz bestimmten Umgebung abhängig und können sich nur in einem eng umschriebenen Umfeld entwickeln. Ein Beispiel dafür sind leukämische Zellen, die ohne Stroma oder passende Nische nicht überleben können. Hier liegt ein entscheidender Vorteil von Tiermodellen gegenüber isolierten Tumorzellen: Nur mit Tiermodellen ist es möglich, die Komplexität des Tumors als Ganzes zu untersuchen und Veränderungen an Tumorzellen und Umgebung gleichzeitig zu analysieren. All diese Interaktionen zwischen verschiedenen Zellen in einem Tumor bieten auch wichtige therapeutische Angriffsmöglichkeiten und werden derzeit intensiv in ihren Grundlagen beforscht.

Xenografts und transgene Tiermodelle

Ein wichtiges Ziel der onkologischen Grundlagenforschung ist derzeit die Entdeckung potenzieller therapeutischer Zielmoleküle, darunter Wachstumsfaktoren oder Signalmoleküle („Target Identification“). In der translationellen Forschung wird deren therapeutisches Potenzial geprüft („Target Validation“). Dabei sind viele grundlegende Mechanismen der Signalübertragungswege und des Zellzyklus in Tier und Mensch vergleichbar, sodass sich Tumoren der Maus besonders gut als Modelle für Tumoren des Menschen eignen und der Erkenntnisgewinn aus Tierstudien daher im Allgemeinen sehr hoch ist.
Mit der rasanten Weiterentwicklung molekularbiologischer Methoden ist es uns heute möglich, gezielt Teile fremder Erbsubstanz in Lebewesen einzufügen oder eigene DNA-Abschnitte zu entfernen. Die Verfügbarkeit von transgenen Tieren hat die Krebsforschung revolutioniert, da uns diese Technologien erlauben, den Einfluss einzelner Gene auf die Krebsentstehung im Ganztier zu studieren. Maßgeschneiderte und damit realitätsnahe Modelle menschlicher Krankheiten können erstellt werden und erlauben uns wichtige Einblicke. Weiters stellen sie Modelle dar, an denen therapeutische Konzepte herausgefordert werden können. Früher war man weitgehend auf Xenografts angewiesen. Bei einem Xenograft werden menschliche Tumorzellen oder Tumorzell-Linien in immunkomprimierte Mäuse transplantiert. Obwohl dieses Sys tem weiterhin ein wichtiges Standbein in der translationellen Onkologie darstellt, ist seine Aussagekraft beschränkt. Die Architektur des Tumors ist sehr artifiziell, die Interaktion mit dem Immunsystem und dem Stroma nur eingeschränkt gegeben. Tumorzell-Linien sind nur bedingt repräsentativ für jene heterogene Zellpopulation, die sich tatsächlich im Patienten oder Tier entwickelt. Darüber hinaus kommt es durch die Zellkultur zu einer Selektion bestimmter Tumorzellklone – d.h. man könnte diese Art der Versuche auch als „Zellkultur“ im Ganztier umschreiben.
Tumorstammzellen, Leukämieforschung: Dennoch gibt es ein Anwendungsgebiet, bei dem Xenograft-Modelle in letzter Zeit einen beachtlichen Erkenntnisgewinn ermöglichten – nämlich das Gebiet der Tumorstammzellen. Die Hypothese der Tumorstammzellen besagt, dass nicht alle Tumorzellen innerhalb eines Tumors gleichwertig sind, sondern eine hierarchische Struktur besteht. Es gibt eine definierte Population von Tumorstammzellen, welche die Erkrankung – als die eigentlichen Verursacher – auslösen. Nur diese Zellpopulation ist unsterblich, hat „Self-renewal Potential“ und kann die Erkrankung auch weitertragen. Die einzige Möglichkeit, diese Tumorstammzellpopulationen zu definieren, ist jene über ihre Fähigkeit, Krebserkrankungen nach Transplantation auszulösen. Das gilt natürlich auch für humane Tumorstammzellen, die ebenfalls die Fähigkeit in sich tragen, Tumoren in einer immunkomprimierten Maus auszulösen. Während das Konzept für manche Leukämiearten gut untersucht und generell akzeptiert ist, ist es bei soliden Tumoren noch sehr umstritten. Die Zukunft wird weisen, ob und für welche Tumorarten es Stammzellen gibt. Im Rahmen der Leukämieforschung ergeben sich aber bereits jetzt relevante Konsequenzen aus der Zielsetzung heraus, über die Elimination genau dieser Tumorstammzellpopulation auch eine Heilung zu erzielen. Derzeit werden bereits verschiedene Medikamente als Monotherapie oder in Kombinationen bezüglich ihrer Auswirkung auf leukämische Stammzellen gestestet, wobei man bei diesen Fragestellungen auf Xenotransplants angewiesen ist. Darüber hinaus wird diskutiert, ob sich diese Methode unter Umständen auch zur „Maßschneiderung“(„ Personalized Medicine/ Therapy“) der Therapie eignet. Es ist vorstellbar, dass therapeutische Kombinationen vorab in Tumortransplantationsmodellen getestet werden, um festzustellen, auf welche Kombination die Tumorstammzellen des jeweiligen Patienten am besten reagieren. Im Moment ist dies leider noch Zukunftsmusik.
Vorteile der transgenen Maus: Verglichen mit Xenotransplants besteht der große Vorteil einer transgenen Maus darin, dass die Tumorenstehung eng an der Wirklichkeit nachgestellt und imitiert werden kann. Ausgangspunkt für transgene Mäuse sind meist am Patienten erhobene Befunde. Findet man bestimmte Gene oder Signalwege in einer Tumorart hoch exprimiert und aktiviert, so kann man diesen Vorgang nachbauen. Das betroffene Gen wird gewebsspezifisch in einer Maus exprimiert oder ausgeschaltet. Somit kann untersucht werden, ob es sich bei der beobachteten Veränderung um einen Zufallsbefund handelte, der mit dem Tumorverlauf per se nichts zu tun hat, oder ob es sich um eine an der Tumorentstehung ursächlich beteiligte Veränderung handelt. Ein bekanntes Beispiel ist die Expression von mutiertem K-ras, das in Tumoren der Lunge, des Pankreas und des Kolon gefunden wird. Hier ist die Methodik bereits so weit fortgeschritten, dass man mutiertes K-ras in einigen wenigen Zellen z.B. in der Lunge eines erwachsenen Tiers „anschalten“ kann. Es passiert also, was auch im Menschen passiert, wenn ein Tumor entsteht: Eine Zelle verändert sich, mutiert und tritt in Wechselwirkung mit den gesunden Zellen der Umgebung, des Immunsystems und des Bindegewebes. Bei Interaktion der mutierten Zelle mit dem gesunden umgebenden Gewebe entsteht langsam der Tumor. Im Fall von K-ras wurde auf diese Weise nachgewiesen, dass tatsächlich die Expression von mutiertem K-ras in wenigen Lungenzellen ausreicht, um Lungentumoren auszulösen. Damit ist dieses Mausmodell auch ideal für die Untersuchung neuer Therapiekonzepte.

„Oncogene Addiction“

Das oben angeführte Beispiel illustriert einen Teil der Möglichkeiten mit diesen Technologien. Die molekularbiologischen Methoden sind aber vielfältig und werden ständig erweitert. Gene können in gewebsspezifischer Art und Weise deletiert werden, sie können gezielt eingeschaltet oder nach Belieben abgeschaltet werden. Das Abschalten von Genen ist nicht nur bei der Tumorentstehung, sondern genauso auch für die Aufrechterhaltung eines Tumors von Bedeutung („Tumor Maintenance“). Diese Eigenschaften der Tumorzellen können sich im Laufe der Tumorentstehung verändern. Gene und Signalwege, die initial für die Tumorentstehung bedeutsam sind, sind nicht zwingend auch für die Aufrechterhaltung der Erkrankung nötig. Das Ausschalten von Genen in bereits etablierten Tumoren dient damit der „Target Validation“, d.h. man kann untersuchen, ob sich ein bestimmtes Gen überhaupt als Angriffspunkt für neue Medikamente eignet. Man spricht hier im Falle von Onkogenen auch von „Oncogene Dependance“ oder im Falle eines Signalmoleküls von „Nononcogene Addiction“. Diese Abhängigkeiten zu erkennen und zu verstehen ist die Grundlage neuer therapeutischer Strategien. Nachdem Überleben und Wachstum einzelner Tumoren von verschiedenen Molekülen und Signalwegen abhängig ist, wäre ein frühzeitiges Erkennen eben dieser Moleküle und Signalwege essenziell, um den Tumor gezielt angreifen zu können (Personalized Medicine) – denn letztlich repräsentieren diese idealen Angriffspunkte zugleich auch die Achillesferse der Tumorzelle.

Univ.-Prof. Dr. Veronika Sexl
Institut für Pharmakologie, Medizinische Universität Wien, Departement of Biomedical Sciences, Veterinärmedizinische Universität Wien

Univ.-Prof. Dr. rer. nat. Maria Sibilia
Institut für Krebsforschung, Medizinische Universität Wien