Amor vitae als Ausweg aus der psychosozialen Pandemie

Wir alle sind von ihr betroffen – von der immer rascher und immer weiter um sich greifenden psychosozialen Pandemie als Folge der COVID-19-Virus-Pandemie. An keinem von uns gehen die Ereignisse rund um die virale Bedrohung spurlos vorbei, vor allem auch nicht an unseren Kindern und Jugendlichen. Die einen sind etwas weniger davon betroffen und dürfen sich auf ein Problematisieren der Einschränkungen bzw. Veränderungen in ihren Lebensgewohnheiten beschränken, die anderen leiden hingegen mehr oder minder massiv an durch die Krise hervorgerufenen psychosozialen Problemen bis hin zu psychischen Erkrankungen. Keiner bleibt verschont von den Gefühlen der Verunsicherung und Bedrohung, die von zeitweisem diffusen Unwohlsein bis hin zu veritablen Existenzängsten reichen können. Die damit verbundenen Affekt- und Stimmungsverschiebungen umfassen Angst, Gereiztheit und gereizte Missgestimmtheit, Wut, Zorn, Niedergeschlagenheit und Verzweiflung. Ob dabei die befürchtete Infektionsgefahr, die Nebenwir­kungen der Einschränkungsmaßnahmen bzw. das Nichteinhalten von Schutzmaßnahmen durch Unbelehrbare oder aber die zu erwartenden wirtschaftlichen Folgen der Krise als Grund genannt werden, ist von nachrangiger Bedeutung – jeder ist ein Betroffener, und für jeden gilt: Ein bloßes Warten auf das Ende der viralen und psychosozialen Krise wird nicht genug sein, um sie zu bewältigen, zumal davon auszugehen ist, dass die psychosoziale Pandemie uns mehrere Jahre länger beschäftigen wird als die virale Pandemie, von der heute selbst noch unklar ist, wie lange sie uns in Schach halten wird.

Liebe zum Unausweichlichen

Um eine Krise bewältigen zu können, braucht es zuvorderst die Akzeptanz, dass es sich beim Erfahrenen und Erlebten um eine Krise handelt; es braucht also einen offenen Zugang zum Faktischen und ein Ernstnehmen des Unausweichlichen. Ein Sich-Verschließen gegenüber dem Offensichtlichen bzw. ein Negieren des Tatsächlichen, wie wir es vor allem von den Anfängen in einer Krise kennen (manche verharren dann leider in diesem Zustand der Negation über lange Zeitstrecken), verunmöglicht eine zielführende und nachhaltig wirksame Bewältigung der Krise. Friedrich Nietzsche geht hier noch einen Schritt weiter, wenn er im Angesicht des leidvollen Schicksalhaften nicht nur ein oberflächliches Zur-Kenntnis-Nehmen, sondern darüber hinausreichend eine liebende Akzeptanz des unausweichlich Bedrohlichen fordert. Er nennt sein Konzept zur Bewältigung des Schicksals amor fati – „Liebe zum Schicksal“ bzw. „Liebe zum Faktischen, zum faktisch Gegebenen“.

Nietzsche erwähnt diese Bewältigungsstrategie erstmals im Aphorismus 276 seines im Jänner 1882 in Genua verfassten vierten Buches der Fröhlichen Wissenschaft mit den Worten: „… Heute erlaubt sich Jedermann seinen Wunsch und liebsten Gedanken auszusprechen: nun so will auch ich sagen, was ich mir heute von mir selber wünschte und welcher Gedanke mir dieses Jahr zuerst über das Herz lief, – welcher Gedanke mir Grund, Bürgschaft und Süssigkeit alles weiteren Lebens sein soll! Ich will immer mehr lernen, das Notwendige an den Dingen als das Schöne sehen: – so werde ich Einer von Denen sein, welche die Dinge schön machen. Amor fati: das sei von nun an meine Liebe! Ich will keinen Krieg gegen Hässlichkeit führen (…) Und, Alles in Allem und Grossem: ich will irgendwann einmal nur noch Ja-sagender sein!“ Das Notwendige, das Unausweichliche, selbst dann (oder: gerade dann), wenn es ein Schlechtes ist, als ein Schönes zu sehen – das ist ein unglaublich hoher Anspruch. Er will „irgendwann einmal nur noch Ja-sagender sein“. Ja-Sagender zum Schicksal – unabhängig davon, was es uns gebracht hat und uns bringt; vor allem auch dann, wenn es Schlechtes bringt und uns in einem ersten Schritt vorerst bedroht.

Liebe zur Veränderung

Dieses Ja-Sagen als von Nietzsche geforderter Grundtenor des Lebens bedeutet aber nicht unbedingt, dass man mit allem zufrieden ist oder gar, dass man sich das Schlechte, Bedrohliche schönredet – es heißt vielmehr, dass man Ja dazu sagt, um damit eine stabile Grundlage zur Veränderung zu schaffen. Im letzten kurz vor seinem Zusammenbruch in Turin verfassten Werk Nietzsche contra Wagner macht er das Amor-fati-Konzept zur unverzichtbaren Grundlage von psychischer Gesundheit überhaupt und erhebt es damit zum grundsätzlichen Lebensprinzip: Es geht darum, das Schicksal nicht nur zu akzeptieren, sondern es liebzugewinnen, auch dann, wenn es Furchtbares ist – es als einen positiven Beitrag zum eigenen Leben und Erleben, als Ermöglichung von Lebensneugestaltung und persönlicher Entwicklung anzuerkennen. Auch das Schlechte – mehr noch: vor allem das Schlechte – gibt uns die Möglichkeit zur Weiterentwicklung: Es rüttelt uns auf – es ermöglicht uns, eine Neuorientierung, einen Neubeginn zu wagen.

Die hier angesprochene Neuorientierung bereitet uns aber gerade dann große Schwierigkeiten, wenn wir uns in einer desaströsen Lebenssituation befinden. All das anstrebenswerte Gute und Schöne scheint uns da abhandengekommen bzw. in weite Ferne gerückt zu sein. Überwältigt von Schmerz und Leid entsteht der Eindruck, dass es nur noch ­Desaströses, Hässliches, Scheußliches gibt und wir, ob des Widerfahrenen, in Schmerz, Wut bzw. Selbstmitleid zu versinken drohen. Der einzige Ausweg aus diesem Gefangensein im Negativen ist – und das hat Nietzsche bereits weit vor der Entwicklung moderner Psychotherapietechniken erkannt –, das uns vom Schicksal Zugemutete nicht nur als eine für uns wichtige Lebensgegebenheit hinzunehmen, sondern vielmehr als gewinnversprechenden Teil unseres Lebens positiv anzunehmen.

Liebe zum Schönen

Die wirkungsmächtigste Waffe gegen das Bedrohliche, Beeinträchtigende und Scheußliche ist allerdings nicht nur die liebevolle Akzeptanz des Schicksals, sondern die Hinwendung auf das Schöne im Leben und das Schaffen von Schönem in unserer Welt. Gleichzeitig ist das von uns in den Blick genommene und von uns geschaffene Schöne auch die größte Kraftquelle unseres Lebens und damit der unverzichtbare Motor für eine auf ein schönes Leben ausgerichtete Lebensneugestaltung. Um ein freudvolles und gedeihliches Leben (wieder) führen zu können, genügt daher auch nicht nur die Liebe zum Faktischen, die Liebe zum Schicksal, amor fati allein; es braucht vielmehr auch die Liebe zum zukunftsweisenden Werden, zum Wollen und Umsetzen von lebendiger Weiterent­wicklung und Lebensneugestaltung, es braucht eine Liebe zum Leben – amor vitae!

Liebe zum konkret Leben

Das Amor-vitae-Konzept ist eine Weiterentwicklung des Amor-fati-Konzepts Nietzsches. Es handelt sich dabei um ein viergliedriges Lebenskonzept. Um das Beste und Schönste aus dem uns Gegebenen zu machen, um amor vitae nicht nur theoretisch zu bedenken, sondern auch praktisch zu leben, braucht es außer der Liebe zum Schicksal noch drei weitere liebevolle Hinwendungen: erstens eine Liebe zum Machen und Schaffen; zweitens eine Liebe zum Erleben, zum Spüren und Reflektieren von selbst Erlebtem; und drittens eine Liebe zum Leben und Zusammenleben im Allgemeinen. Nur auf diese Art und Weise kann amor vitae als Liebe zum konkreten Leben auch in die Tat umgesetzt werden.

Ohne Liebe zum Faktischen im Leben, also ohne amor fati, kein amor vitae. Aber erst mit einer über das Faktische hinausreichenden Liebe zum Machen und Schaffen, einer liebevollen und vor allem auch vertrauensvollen Zuwendung zu den eigenen schöpferischen Möglichkeiten kann amor vitae nicht gelebt werden. Gelebter amor vitae braucht Vertrauen in die eigenen Schaffens- und Gestaltungsmöglichkeiten, Vertrauen in die Selbstwirksamkeit. Gerade dieses Vertrauen in die eigenen Schaffensmöglichkeiten ist heute vielen Kindern und Jugendlichen aber oft aufgrund ihrer Erfahrungen rund um die Krise verlorengegangen. Umso wichtiger ist es daher, sie dabei zu unterstützten, den Glauben an die eigene Selbstwirksamkeit wiederzufinden. Mindestens genauso wichtig wie dieses An-sich-Glauben ist es aber auch, das eigene Spüren, Erspüren und Reflektieren des Gespürten weiterzuentwickeln und zu entfalten, um auf diese Weise die Voraussetzung zu schaffen, das konkrete Erleben und damit auch das konkrete Leben lieben zu lernen. Zum Kernstück des amor vitae, der Liebe zum eigenen konkreten Leben, kann nur derjenige vordringen, der eine Liebe zum Leben im Allgemeinen und damit auch für das Zusammenleben mit anderen aufbringen kann.

Liebe zum Zusammenleben

Leben heißt aber immer auch Zusammenleben. Als genuine Begegnungs- und Gemeinschaftswesen sind wir in unserem Leben immer mit anderen Zusammenlebende. Selbst in der Verweigerung des Zusammenlebens im engeren Sinn bleibt unser Leben Zusammenleben – denn auch eine solche Verweigerung ist nichts anderes als eine bestimmte Form der Kommunikation mit anderen. Amor vitae ist somit nicht nur eine Liebe zum Leben des Einzelnen, sondern darüber hinausreichend immer auch eine Liebe zum mitmenschlichen Zusammenleben. In diesem Sinne verstanden, kann amor vitae vor allem in Krisenzeiten für uns alle – nicht nur für unsere Kinder, Jugendlichen und jungen Erwachsenen – in gleicher Weise zu Lebenselixier und Kraftquelle sowie auch zur Richtschnur für ein gelingendes und freudvolles Leben werden.

Mit meinen besten Wünschen für gelebten und erlebten amor vitae

Herzlichst Ihr