Psychosoziale Pandemie – eine zentrale Leidensform in der COVID-Krise

Das Wort Pandemie ist heute in aller Munde – gemeint ist dabei heute in der Regel die virale COVID-19-Pandemie, also ein hochinfektiöses Krankheitsgeschehen, das durch ein bestimmtes Virus, nämlich das SARS-CoV-2-Virus, rasch und weitreichend in der Weltbevölkerung Verbreitung findet. Der Begriff Pandemie stammt aus dem Altgriechischen und setzt sich aus den Wörtern pan (dt. alles umfassend, gesamt) und de˜mos (dt. Volk) zusammen. Er steht in Erweiterung des Begriffes Epidemie (die auf eine bestimmte Region beschränkt bleibt) für eine sich weit über Landesgrenzen und Kontinente hinwegreichende Ausbreitung einer infektiösen, also ansteckenden Erkrankung. Ob es sich um eine Pandemie oder aber nur um eine Epidemie handelt, soll nach den 2017 erschienenen Richtlinien der WHO zum Pandemic Influenza Risk Management der jeweilige Generaldirektor bestimmen; im vorliegenden COVID-Fall also der äthiopische Biologe Tedros Adhanom Ghebreyesus. Welchen Sinn eine solche Bestimmung einer Pandemie durch einen WHO-Gesundheitsgeneraldirektor bei einer wie hier allgemein leicht erkennbaren weltweiten Ausbreitung ergeben soll, bleibt dahingestellt; gemeint sind damit wahrscheinlich eher Grenzfälle von sehr starker Ausbreitung, ohne dass aber alle bzw. nahezu alle Weltteile mehr oder weniger stark betroffen sind.

Hoch ansteckend

Üblicherweise werden, wenn von hoch ansteckenden Störungen gesprochen wird, Erkrankungen gemeint, die von Viren, Bakterien, Pilzen, Protozoen oder Würmern verursacht werden. Dabei wird ganz vergessen, dass auch andere Leidensformen, wie z. B. psychische Phänomene, Störungen bzw. Erkrankungen, einen hohen Ansteckungsgrad aufweisen können. Angst ist ein solches hochinfektiöses Phänomen, das – wie wir alle aus dem täglichen Leben wissen – ganz leicht auf andere übertragen werden kann. Es braucht hier nur das prinzipielle Für-möglich-Halten eines Gefahrenmomentes, um die von anderen empfundenen Ängste auch auf einen selbst zu übertragen – Erkrankungsängste und Fremdenängste sind dabei wohl die heute am meisten ansteckenden Leidensformen. Es ist dann nur eine Frage des Ausmaßes und der Auswirkung der jeweiligen erlebten Angst, ob im Ansteckungsfall von einem einfachen psychischen Phänomen, einer Störung oder aber von einer Erkrankung gesprochen werden kann.

Aber auch aggressive Verhaltensweisen imponieren durch ein hohes Ansteckungspotenzial. Wir alle kennen den Fall von kaskadenartigen Verstärkungen und Übertragungen von Aggressionen auf (vorerst durchaus noch unbeteiligte) Mitmenschen. Dauern die sich ausbreitenden Aggressionen über längere Zeitstrecken an, dann sind bei den davon Angesteckten nicht selten eine erhöhte Reizbarkeit und Gereiztheit die Folge, die sich ihrerseits wiederum auf andere übertragen kann. Ähnliches gilt auch für depressive Zustände, Pessimismus, Freudlosigkeit, Aussichtslosigkeit und Hoffnungslosigkeit, um nur einige wenige hochkontagiöse psychische bzw. psychopathologische Phänomene in der uns alle betroffen machenden „COVID-Zeit“ zu nennen.

Psychische bzw. psychopathologische Erscheinungsformen und ihre damit aufs Engste verbundenen sozialen Auswirkungen sind, vor allem dann, wenn sie in ihren Ausgangspunkten schon viele betreffen, in der Regel hoch kontagiös und breiten sich, vor allem in unserem Zeitalter der schier grenzenlosen digitalen bzw. medialen Kommunikationsmöglichkeiten ebenso wie andere hochinfektiöse Krankheitserreger rasch über alle Landesgrenzen hinweg aus. Es ist daher nur allzu berechtigt, dann, wenn sich psychische Leiden rasch durch Übertragung von einem zum anderen rasch ausbreiten und sich ihr Vorkommen auch noch über Kontinente verteilt, von einer psychosozialen Pandemie zu sprechen.

Jeder wird einen kennen …

Auch heute befinden wir uns mitten in einer solchen psychosozialen Pandemie. Sie hat sich in engem Zusammenhang mit der viralen COVID-19-Pandemie und den damit verbundenen Schutzmaßnahmen entwickelt und schreitet seitdem scheinbar unaufhaltsam voran. Um das Ausmaß dieser psychosozialen Pandemie in der österreichischen Bevölkerung abschätzen zu können, führten wir eine vom Erwin-Ringel-Stiftungsfonds finanziell unterstützte Untersuchung zu den durch die COVID-Krise bedingten Problemen und Leiden durch. Das Kernstück dieser vom Institut für Sozialästhetik und Psychische Gesundheit der Sigmund Freud Universität Wien geplanten, ausgerichteten und ausgewerteten Studie ist eine repräsentative Umfrage des Gallup-Instituts zu den psychosozialen Beschwerden in unserer Bevölkerung, die durch die virale Pandemie und die damit in Verbindung stehenden Maßnahmen und Veränderungen hervorgerufen werden. Die telefonische Befragung erfolgte Ende Mai dieses Jahres (also zum Zeitpunkt der ersten Lockerungen nach dem Frühjahrs-Lockdown) mittels eines im Institut für Sozialästhetik und Psychische Gesundheit, unter Federführung von Oliver Scheibenbogen, klinischer Psychologe und Stellvertretender Leiter des Instituts, entwickelten Fragenkatalogs.
Das erste Hauptergebnis ist der bedrückende Umstand, dass auch bereits zu diesem Zeitpunkt (ganz im Gegensatz zur vorschnellen Ankündigung, jeder werde einen kennen, der an der viralen Erkrankung verstorben wäre) jeder zumindest einen kennt, der von der psychosozialen Pandemie betroffen ist: Ungefähr ein Viertel der Österreicher gibt an, durch Corona erheblich psychisch belastet zu sein, und ungefähr ein Viertel sieht sich erheblich wirtschaftlich belastet.

Die wirtschaftlichen Probleme sind allerdings keineswegs Hauptgrund für psychische Belastungen. Die Gruppe mit psychosozialen Belastungen überschneidet sich nur in geringem Maße mit jener mit wirtschaftlichen Problemen. Fast 90 % der psychosozialen Beschwerden sind durch andere Probleme, vor allem durch das COVID-Maßnahmen-Paket verursacht. Dabei spielt der erlebte massive Verlust bzw. die Aufgabe der Selbstbestimmung eine zentrale Rolle. Als ein zweites wesentliches Ergebnis dieser Studie ist die deutliche Zunahme von Reizbarkeit, Gereiztheit und Dysphorie als unmittelbare Folge und Anzeichen einer erheblichen Überforderung in und von der Corona-Krise betroffenen Menschen. Je stärker die psychische bzw. wirtschaftliche Belastung, desto höher das Aggressionspotenzial. Die Nerven liegen bei mehr als jedem dritten Österreicher blank.

Natürlich ist Angst ein typischer Begleiter jeder Krise, so auch in der COVID-Krise. Fast jeder zweite Österreicher gibt an, im Zusammenhang mit der Corona-Krise Zukunftsängste zu haben; an generalisierter Angst leidet mehr als ein Viertel der Befragten, wobei Frauen hiervon mehr betroffen zu scheinen als Männer. Die höchsten Angstwerte finden sich bei den Dreißig- bis Fünfzigjährigen und bei jenen, die mit Kindern in einem gemeinsamen Haushalt leben.
Aber auch die Lebensfreude geht verloren – und damit auch die psychische Gesundheit. Rund ein Drittel beklagt im Zusammenhang mit der COVID-Krise den Verlust von Lebensfreude, von den durch die Krise psychisch Belasteten sind es sogar ungefähr zwei Drittel. Da die Möglichkeit, ein freudvolles Leben zu führen, neben der Fähigkeit zu einem autonomen Leben ein zentrales Zeichen für psychische Gesundheit ist, bedeutet ein Verlust an autonomem und freudvollem Leben somit auch den Verlust von psychischer Gesundheit.

Wir sind die Erreger

Was kann man nun gegen diese psychosoziale Pandemie tun? Es gibt einen fundamentalen Unterschied zwischen viraler Pandemie und psychosozialer Pandemie: Wir kennen sehr gut die Erreger und ihre Wirkspektren! Wir kennen ihre Infektions- und Störungsmodalitäten sowie deren Auswirkungen auf unseren Nächsten wesentlich besser als jene des SARS-CoV-2-Virus. Die „Erreger“ sind nämlich wir selbst, wir alle: Es sind keineswegs nur die Politiker und ihre (nicht) gesetzten Maßnahmen, die wir so gerne (und da und dort gar nicht unberechtigt) dafür schelten; auch nicht nur die Journalisten, die ob ihrer so oft nur auf Ansteckungszahlen und -modalitäten ausgerichteten Berichterstattung ganz wesentlich an der ungebremsten Ausbreitung der psychosozialen Krise zumindest indirekt (manchmal sogar mittels Furcht- und Schreckensjournalismus sogar aktiv) mitwirken; und auch nicht nur jene Psychiater, die einem psychiatrischen Minimalismus frönend ihre Zuständigkeit für die Eindämmung dieser psychosozialen Pandemie nicht wahrhaben wollen und sie auf diese Weise in ihrem ungehemmten Vorantreiben unterstützen. Wir alle sind es, jeder Einzelne von uns ist es, der an einer erfolgreichen Eindämmung der Pandemie mitwirken kann.

Was ist zu tun?

Die Maßnahmen, die man hier setzen kann, sind mannigfach: Sie reichen von Akzeptanz und Bewusstmachen der psychosozialen Krise über die Aufklärung hinsichtlich ihrer Erscheinungsformen und Auswirkungen über das Zuhören und Ernstnehmen von entsprechenden Klagen und Leiden der davon Betroffenen bis hin zu konkreten Hilfestellungen, wie psychosozialen Beratungen und Unterstützungen sowie im Krankheitsfall auch psychotherapeutischen bzw. psychopharmakologischen Angeboten.
Bei all diesen Maßnahmen sollten wir nie aus dem Blick verlieren, dass die Schwere des Leidens und auch der präventive bzw. kurative Aufwand umso geringer sind, je früher wir zielführend intervenieren und helfen. Unverzichtbar ist dabei ein umfassendes Wissen um die Erscheinungsformen und Dynamiken einer solchen psychosozialen Pandemie.

In diesem Sinne wünsche ich Ihnen eine anregende und fruchtbringende Lektüre dieses Schwerpunktheftes!

Herzlichst Ihr