Editorial

„Publikationstsunami“

Die letzten Wochen haben nicht nur die prinzipielle hohe Leistungsfähigkeit des österreichischen Gesundheits- und Sozialsystems unter Beweis gestellt, sondern auch gezeigt, dass die österreichischen Fachärztinnen und Fachärzte für Innere Medizin (vor allem, aber nicht nur) in den jeweiligen Schwerpunktzentren der internistischen Sonderfächer in der Lage sind, aus dem losgebrochenen „Publikationstsunami“ zu COVID-19 relevante Daten herauszufiltern.
Dies war besonders schwierig, da auch in hoch renommierten internationalen Fachjournalen kleine Beobachtungsstudien ohne jegliche statistische Qualitätskontrolle (und klarerweise ohne Randomisierung) mit viel Getöse und entsprechender Aufmerksamkeit publiziert wurden. Ich darf dabei nur an die Hypothese des ungünstigen Einflusses einer RAS-Blockade auf den Krankheitsverlauf bei COVID-19 erinnern, der sich in späteren Studien anscheinend in Richtung protektive Wirkung verwandelt hat. Was wirklich stimmt bzw. ob davon überhaupt etwas stimmt, ist für mich völlig ungewiss.
Auch angekündigte „Wunderwaffen“ aus dem Fachbereich der Rheumatologie (z. B. Hydroxychloroquin, Interleukin-6-Blocker, Januskinase- Inhibitoren u. a.) konnten bislang – in größtenteils Observationsstudien – die therapeutische Wirkung bei kritisch kranken COVID- 19-Patienten nicht gesichert unter Beweis stellen. Größere randomisierte prospektive Studien zu diesen Fragestellungen sind derzeit noch am Laufen.
Das erste, am 1. 5. 2020 von der FDA in den USA zugelassene COVID-19-Medikament ist das ursprünglich von der Firma Gilead zur Ebola- Bekämpfung entwickelte Remdesivir, ein intravenös zu verabreichendes Virostatikum, welches laut einer jüngst publizierten, randomisiert prospektiven Studie bei kritisch kranken COVID-19-Patienten die Infektionsdauer signifikant um ca. ein Drittel reduzieren konnte, die Mortalität hingegen um ca. 25 %, aber ohne statistische Signifikanz (möglicherweise der doch geringen Fallzahl geschuldet). Auch hierzu werden wir weitere größere Studien sehen. Die klinische Frage, zu welchem Erkrankungszeitpunkt z. B. Remdesivir am effizientesten einzusetzen wäre, bleibt natürlich offen; vermutlich nicht allzu früh bei annähernd symptomlosen Patienten (da es zahlreiche milde Verläufe der Infektion gibt), aber auch nicht zu spät, wenn beatmet an der Intensivstation ein Multiorganversagen droht. Ob Remdesivir (bzw. ähnlich wirksame orale Präparate) in Zukunft das „Tamiflu®“ bei SARS-CoV-2-Infektion wird, bleibt abzuwarten.
Weiterhin unklar erscheint auch die Frage der Entwicklung einer anhaltenden Immunität nach Infektion, was bisher doch eine wesentliche Basis für die Entwicklung und Wirksamkeit eines entsprechenden Impfstoffs darstellte.

Vergleichsweise gut, aber nicht optimal

Auch wenn wir in Österreich mit knapp unter 70 verstorbenen Personen pro 1 Mio. Einwohner mit nachgewiesener COVID-19-Infektion weit unter dem Durchschnitt unserer Nachbarländer wie Deutschland und Schweden liegen (ca. nur ein Viertel der dort verstorbenen Menschen), kann sich nach meinem Dafürhalten das österreichische Gesundheitssystem nicht damit rühmen, optimal auf die Pandemie vorbereitet gewesen zu sein. In erster Linie möchte ich dabei auf den eklatanten Mangel an Schutzausrüstung auch in Schwerpunktspitälern sowie auf die nur zögerlich verfügbare PCR-Testkapazität verweisen. Ich möchte hier aber keinerlei Schuld zuweisen, da die Vorbereitung auf eine „angekündigte“ Katastrophe immer sehr schwierig ist und in jedem Fall (ob die Katastrophe nun kommt oder nicht) die anderen, welche keine Entscheidung zu treffen hatten, es nachher besser gewusst hätten (ich erlaube mir in diesem Kontext an die Häme bezüglich der angekauften Schutzmasken gegen Vogelgrippe unter Ministerin Rauch-Kallat zu erinnern).

Wahre Helden

Meiner Wahrnehmung nach waren im ärztlichen Bereich vor allem AllgemeinmedizinerInnen in ihrer Funktion als Hausärztinnen, -ärzte und InternistInnen im Akutspital (inklusive anästhesiologischer Unterstützung) in der „Corona- Krise“ die wahren „Helden“, da die meisten anderen medizinischen Bereiche ihre Leistungen „zurückfuhren“ und nur sehr elektiv oder im Akutfall tätig wurden. Dies trifft meines Wissens nach sowohl auf weite Teile des extramuralen Bereiches als auch des Akut-Spitalsbereiches inkl. Rehabilitationseinrichtungen zu. In diesem Sinne sind InternistInnen im Akutspital die wahren „Seuchenärzte“ der Neuzeit und müssen an Notfallabteilungen, Erstaufnahmeambulanzen, COVID-Bettenstationen und Intermediate- und Intensivabteilungen (in Kooperation und mit der Unterstützung der Anästhesie und anästhesiologischen Intensivmedizin) die Pandemie „face-to-face“ (hoffentlich mit adäquater Schutzausrüstung) bekämpfen.
In diesem Licht ist es auch erwähnenswert, dass die wenigsten Mitbürger vermutlich wissen, dass Virologinnen und Virologen selten bis gar nicht unmittelbar erkrankte Patienten betreuen, etwas was natürlich auch auf Epidemiologinnen und -logen sowie SpezialistInnen für „Public Health“ zutrifft.

„Abschussliste“ überdenken

Alle derzeit in Akutkrankenanstalten tätigen Fachärzte und -ärztinnen für Innere Medizin haben noch die „alte“ internistische Ausbildungsordnung durchlaufen, wo eine entsprechende Sonderfachspezialisierung erst nach sechs Jahren allgemeininternistischer Ausbildung möglich war. Diese breite internistische Ausbildung ist allen sicherlich sehr zugute gekommen, wenn Additivfachärzte für Endokrinologie, Rheumatologie, Angiologie, Kardiologie, Gastroenterologie und Hepatologie plötzlich multimorbide COVID-19-Patienten versorgen und behandeln mussten.
Bedenklich stimmt dabei, dass gerade die „alten“ internistischen Additivfächer Infektiologie und Tropenmedizin sowie internistische Intensivmedizin bei Etablierung der neuen internistischen Ausbildungsordnung auf der „Abschussliste“ stehen bzw. standen. Auch das ständige Gezeter um überflüssige und überschüssige internistische Akutbetten ist angesichts der letzten Wochen in neuem Licht zu diskutieren, da trotz der Meinung zahlreicher Gesundheitsökonomen nicht (fast) alle medizinischen Leistungen im Sinne eines industriellen Produktionsprozesses elektiv und in immer kürzerer Zeit erbracht werden können und in der Medizin Unvorhergesehenes und Akutes nicht „wegzuplanen“ ist.
Zuletzt ist im Lichte der demografischen Entwicklung auch zu erwähnen, dass von den mit Stand 6. 5. 2020 gemeldeten 609 COVID-19-assoziierten Todesfällen etwa dreiviertel über 75 Jahre alt waren, wobei in der Altersgruppe 75–84 Jahre knapp 40 Todesfälle pro altersentsprechende 100.000 Einwohner vorlagen, in der Altersgruppe > 84 Jahre etwas über 100 Todesfälle pro altersentsprechende 100.000 Einwohner. Aus unserer eigenen klinischen Erfahrung spielt hinsichtlich der Prognose bei COVID-19 aber nicht nur das kalendarische Lebensalter, sondern vor allem die vorliegende Multimorbidität eine entscheidende Rolle. Medizinethische Überlegungen in der Ressourcenallokation sind daher in Zukunft vermehrt in die Planung von gesellschaftsübergreifenden Maßnahmen bei drohenden Pandemien miteinzubeziehen.
Über Ihre Gedanken und Kommentare zu den angesprochenen Themenkreisen würde ich mich freuen und ersuche diese an Frau Christina Kapusta zu adressieren.

Mit kollegialen Grüßen