Ein Fest des wissenschaftlichen Austausches

UNIVERSUM INNERE MEDIZIN: Die Jahrestagung der Gesellschaft für Thrombose- und Hämostaseforschung (GTH) findet heuer endlich wieder in Wien statt − mit Ihnen als Tagungspräsidenten. Welche erfreulichen Aspekte und welche Herausforderungen beinhaltet das für Sie?

Univ.-Prof. Priv.-Doz. Dr. Cihan Ay: Es ist immer etwas Besonderes, einen Kongress in seine Heimatstadt zu holen und dessen Organisation zu leiten. Das Spezielle in unserem Fall ist, dass Prof. Male-Dressler und ich diese Aufgabe gemeinsam als Kopräsidenten erfüllen mit dem Ziel, das gesamte Krankheitsspektrum von den Kindern bis zu den Erwachsenen abzudecken.

Univ.-Prof. Dr. Christoph Male-Dressler: Die GTH-Tagung findet etwa alle drei bis vier Jahre in Österreich statt, zuletzt haben wir sie 2018 in Wien gehabt. Früher waren auch andere österreichische Kongressorte Gastgeber, doch die GTH-Tagung ist mittlerweile auf eine Größe angewachsen, die nur noch in Wien durchführbar ist. Mit der GTH 2024 wollen wir ein Fest des wissenschaftlichen Austausches und der Fortbildung feiern.

Mit wie vielen Teilnehmer:innen rechnen Sie, und aus welchen Ländern kommen diese?

Ay: Üblicherweise liegt die Zahl bei 700–800 wissenschaftlichen Teilnehmer:innen inklusive Pharmazie und Pflege. Zählt man noch die Ausstellenden dazu, kommen wir auf etwa 1.200 Personen, die den Kongress besuchen. Wir erwarten allerdings sogar etwas mehr als in den vergangenen Jahren, denn bereits im Jänner waren die Anmeldezahlen überdurchschnittlich hoch.

Male-Dressler: Zudem ist die GTH 2024 wieder eine reine Präsenzveranstaltung, während man in den vergangenen Jahren auf Onlinebzw. Hybridveranstaltungen ausweichen musste. Für die Entwicklung neuer Ideen und Kooperationen eignet sich der persönliche Austausch natürlich besser als der digitale. Der Großteil der Teilnehmer:innen stammt aus dem DACH-Raum, also Deutschland, Österreich und Schweiz. Die Kongresssprache ist jedoch Englisch, und so kommen auch immer mehr Besucher:innen aus dem europäischen Raum.

Das diesjährige Motto lautet „Building Bridges in Coagulation” – welcher Kerngedanke steckt dahinter?

Ay: Wien im Zentrum von Europa hatte immer schon eine Brückenfunktion, und um diese Rolle auch im Rahmen der GTH zu leben, haben wir heuer auch Kolleg:innen aus unseren Nachbarländern Tschechien, Ungarn und Slowenien aktiv in die Programmgestaltung eingebunden und in das wissenschaftliche Kongresskomitee aufgenommen.

Male-Dressler: Neben dem internationalen Austausch sollen außerdem die Brücken zwischen den einzelnen Fachrichtungen ausgebaut werden – der Kongress soll die starke Multidisziplinarität unseres Fachgebietes widerspiegeln. Und der dritte Bereich, den das Kongressmotto symbolisiert, ist die Brücke von der Grundlagenforschung bis zur klinischen Behandlung.

Wie wurden diese Zielsetzungen im Programm umgesetzt?

Ay: Zum Beispiel wird an je einem Kongresstag eine Joint-Session gemeinsam mit Tschechien, Ungarn bzw. Slowenien stattfinden. Aber auch State-of-the-Art-Vorträge mit renommierten Sprecher:innen aus Europa spiegeln die Internationalität wider. Ein weiteres Beispiel ist das Spotlight-Symposium „100 Jahre thrombotisch-thrombozytopenische Purpura“. Es deckt nicht nur den geschichtlichen Hintergrund dieser Erkrankung ab, deren erster Fall 1924 dokumentiert wurde und über die man bis vor 20 Jahren kaum etwas wusste, sondern spannt auch den Bogen von den wissenschaftlichen Grundlagen bis zu aktuellen Erkenntnissen und der klinischen Praxis.

Male-Dressler: Zu weiteren inhaltlichen Highlights zählen die fünf Plenarvorträge, in denen die Themen klonale Hämatopoese und kardiovaskuläre Erkrankungen, Blutungsstörungen unbekannter Ursache, Epidemiologie der venösen Thromboembolie und erworbene Hämophilie behandelt werden. Als Keynote- Sprecherin wurde Bettina Finzel aus Deutschland zum Thema „Artificial intelligence in medical research and practice“ eingeladen.

Ay: Aber auch die Poster und Oral Presentations können sich heuer sehen lassen. Es gab knapp 200 Einreichungen – eine beeindruckende Zahl. Die Oral Communications und Poster Sessions sind insbesondere für den Nachwuchs wichtig.

Was waren die größten Fortschritte im Bereich der Hämostaseologie in den vergangenen Jahren?

Ay: Hier ist jedenfalls die Entwicklung sogenannter Non-Faktor-Therapien und die Gentherapie in der Hämophilie zu nennen, aber auch im Bereich der thrombotischen Erkrankungen, bei denen nun neue therapeutische Targets wie der Faktor XI genutzt werden, gibt es neue Daten und Erkenntnisse.

Auf welche Session freuen Sie sich persönlich am meisten?

Male-Dressler: Als Kinderspezialist freue ich mich natürlich besonders auf die pädiatrischen Sitzungen. Da die Pädiatrie häufig vernachlässigt wird, schätze ich es umso mehr, dass ihr heuer genügend Platz eingeräumt wird, insbesondere da es auf diesem Gebiet gerade viele Neuentwicklungen gibt. Grundsätzlich kommen bei Kindern dieselben Medikamente zur Anwendung wie bei Erwachsenen, da Zulassungsstudien mit pädiatrischen Patient:innen jedoch verzögert durchgeführt werden, hinken wir mit den Daten immer etwas hinterher. So werden beispielsweise direkte orale Antikoagulanzien (DOAK) erst seit 5 Jahren bei Kindern angewendet, während sie für Erwachsene bereits mehr als 10 Jahre verfügbar sind. Derzeit werden systematische Studien mit Faktor-XI-Inhibitoren auch bei Kindern geplant, und wir warten gespannt auf den Start dieser Studien.

Wie sehen Sie die Zukunft der GTH-Jahrestagung und ihre Rolle in der wissenschaftlichen Gemeinschaft?

Male-Dressler: Die GTH-Tagung ist grundsätzlich ein sehr beliebter Kongress und im Vergleich zum Jahreskongress der International Society on Thrombosis and Haemostasis (ISTH), der heuer in Bangkok stattfindet, deutlich einfacher zu erreichen. Insbesondere für den europäischen Austausch ist die GTH extrem wertvoll.

Ay: Die GTH-Tagung hat eine sehr lange Tradition. Sie findet heuer bereits zum 68. Mal statt – ich kenne keinen anderen Kongress, der schon so lange läuft. Durch die zahlreichen Forschungsaktivitäten auf diesem Gebiet hat die Veranstaltung im Laufe der Jahre an Bedeutung gewonnen und ist nach der ISTH mittlerweile der zweitgrößte Gerinnungskongress weltweit. Immer weniger Menschen sind bereit, lange Flugstrecken zurückzulegen, daher gehen wir davon aus, dass der Stellenwert einer regionalen Veranstaltung wie der GTH-Tagung zukünftig sogar noch zunehmen wird.

Vielen Dank für das Gespräch!