Grundlagenforschung muss geschlechtsspezifischer werden

Der männliche Körper wurde lange Zeit als die Norm, der weibliche hingegen nur als Normvariante betrachtet. Dabei unterscheiden sich Frauen und Männer nicht nur in ihrer Statur voneinander, sondern z. B. auch in der Ausprägung von Krankheitssymptomen und in ihrer Reaktion auf Medikamente. Weil Frauen hormonellen Schwankungen unterworfen sind sowie schwanger werden können, wurden sie aus klinischen Tests meist ausgeschlossen oder waren unterrepräsentiert.
In den letzten Jahren ist jedoch eine geschlechtsspezifische Betrachtungsweise der Gesundheit von Frauen und Männern ein integrativer Bestandteil der Medizin geworden. Die Entwicklung des fachlichen Diskurses spiegelt sich u. a. in der Gründung von Fachgesellschaften (z .B. Österreichische Gesellschaft für geschlechtsspezifische Medizin, ÖGGSM), spezifischen Lehrveranstaltungen im Medizinstudium, der Etablierung des Lehrstuhls für Gender-Medizin etc. wider. Die Beachtung geschlechtsspezifischer Unterschiede ist aber nicht nur ein seit den 1990er-Jahren aufgekommener Trend in Zusammenhang mit neuen Forschungsergebnissen und gesellschaftlichen Prozessen. So stehen der Meinung mancher, geschlechtsspezifische Medizin sei eine Modeerscheinung, Beispiele im Rahmen einer tieferen Beschäftigung mit Medizingeschichte entgegen. Schon vor über 500 Jahren formulierte Paracelsus seine Gedanken über geschlechtsspezifische Unterschiede in der medizinischen Behandlung. Es ist anzunehmen, dass es sich damals in erster Linie um anatomische Unterschiede handelte.

Männliche Labormäuse und Zellkulturen ohne Geschlechtszuordnung: Immer mehr Studien zeigen, dass geschlechtsspezifische Unterschiede nicht auf die Fortpflanzungsorgane reduziert werden können. Der aktuelle geschlechtsspezifische Fokus verlangt daher eine entsprechende Einbeziehung des Themas in die medizinische Grundlagenforschung. In dieser werden Untersuchungen, die am Menschen direkt nicht möglich sind, an Modellen, die den bekannten humanen Aspekten entsprechen, durchgeführt, vor allem an Versuchstieren (überwiegend Mäusen) und Zellkulturen. Aber wie geschlechtsspezifisch sind die Versuche in der biomedizinischen Forschung? Medikamente beispielsweise werden im Labor entwickelt und an Labormäusen getestet, bevor eine Versuchsreihe mit freiwilligen Probanden durchgeführt wird. Die überwiegende Zahl der Labormäuse ist männlich, die überwiegende Zahl der Versuchspersonen ist gleichfalls männlich, obwohl es mittlerweile genügend Hinweise darauf gibt, dass die Wirkung nicht immer bei beiden Geschlechtern gleich ist.
Zur möglichst weitgehenden Reduzierung von Versuchstieren werden in der Grundlagenforschung Zellkulturen eingesetzt. Zellkulturen sind isolierte Zellen aus Pflanzen, Tieren oder Menschen, die unter bestimmten Bedingungen kultiviert werden. Doch das Geschlecht dieser Zellkulturen spielte bisher kaum eine Rolle. Bei vielen Zellkulturlinien, die handelsüblich erworben werden können, findet sich keine Geschlechtszuordnung. Dabei wurden bereits auf Zellebene deutliche geschlechtsspezifische Unterschiede entdeckt.

Geschlechterdifferenzierte Forschungsfragen und Zielformulierungen: Die Medikamentenforschung ist aber nicht der einzige Bereich, in dem die Sensibilität für die geschlechtsspezifische Fragestellung gestiegen ist. In der Grundlagenforschung, die rein biologische und zelluläre Mechanismen analysiert, wird das Geschlecht aus einer spezifischen Perspektive angesehen: Weiblich und männlich werden als zwei verschiedene Versionen des gleichen Modells perspektiviert und gerade durch diese Betrachtungsweise gibt es zahlreiche Möglichkeiten, verschiedene Geschlechtskriterien einzubeziehen. Schon bei der Planung sollte gut überlegt werden, ob und in welcher Weise das biologische Geschlecht für die Zielsetzungen des Projekts und für die ausgewählten Forschungsmethoden relevant ist. Daraus wird rasch ersichtlich: Wenn von Zellkulturen bis hin zu Tierversuchen alle Faktoren berücksichtigt werden, um geschlechtsspezifisch gerecht zu sein, steht der Grundlagenforschung noch eine Menge Arbeit bevor.
Neben Untersuchungen von Geschlechterdifferenzen in der Zellforschung per se (Zellen, Organellen, Organsysteme, Organismen) ist auch der Einfluss von Geschlecht in seinen zahlreichen weiteren Zusammenhängen (wie etwa dem sozialen Geschlecht – Gender) eine interessante Fragestellung (Einbeziehung bestimmter Aspekte bei der Formulierung wissenschaftlicher Fragen etc.). Werden etwa geschlechtsspezifische Gesichtspunkte eher von Wissenschaftlerinnen als von Wissenschaftlern miteinbezogen?
Geschlechtsspezifische Zusammenhänge in ein Forschungsvorhaben zu integrieren bedeutet Forschungsfragen und Zielformulierungen durchgängig geschlechterdifferenziert zu betrachten. Von der Grundidee bis hin zur Formulierung der Forschungsziele lassen sich maßgebliche Schritte für die geschlechtsspezifische Analyse setzen. Für eine optimale Weiterentwicklung der wissenschaftlichen Methoden müssen Forschungsmodelle systematisch heterogener werden, um geschlechtsspezifischen Unterschieden gerecht zu werden.