Maria Flamm: Wir brauchen die akademisch etablierte Allgemeinmedizin für die fachbezogene Lehre, die Forschung und die Patientenversorgung – genauso wie in jedem anderen medizinischen Fach. Um die Rolle des Faches Allgemeinmedizin im Gesundheitssystem weiter zu stärken, braucht es eine partnerschaftliche Verbindung zwischen der Hausarztpraxis und den akademischen Strukturen sowie die Vernetzung und universitäre Zusammenarbeit. An der Paracelsus Medizinischen Privatuniversität (PMU) wird in Lehre und Forschung die gesamte Versorgungskette abgebildet. Ein Großteil der Patientenkontakte findet in der Primärversorgung statt, daher ist es wesentlich, die Studierenden umfassend darauf vorzubereiten. Auch zukünftige Fachärzte anderer Disziplinen sollten den Arbeitsbereich der hausärztlichen Versorgung kennenlernen, um sie im späteren Dialog über Patienten und deren spezifische Bedürfnisse zu Nahtstellen zwischen den versorgenden Sektoren werden zu lassen. Darüber hinaus brauchen wir die akademische Allgemeinmedizin, um versorgungsrelevante Fragen aus dem Bereich der Grundversorgung fundiert zu bearbeiten. Letztendlich sollte es eine Koalition zwischen den Kostenträgern, den politisch Verantwortlichen, den praktisch Tätigen, aber auch den Forschenden und Lehrenden geben. Diese Art der Vernetzung kann der Schlüssel zum Erfolg sein, die adäquate Versorgung der Bevölkerung in Zukunft sicherzustellen.
Nein, leider noch nicht. In Österreich ist die universitäre Allgemeinmedizin im internationalen Vergleich noch in einem ausbaufähigen Entwicklungsstadium. Genau hier liegt jedoch auch eine große Chance, von den Erfahrungen und Versäumnissen anderer Länder zu lernen. Aber wie war der geschichtliche Verlauf? An der Medizinischen Universität Wien wurde 2001 die erste Abteilung für Allgemeinmedizin eingerichtet. Der Lehrstuhl für Allgemeinmedizin an der PMU wurde 2006 gegründet. Seit 2015 ist ein Lehrstuhl für Allgemeinmedizin in Graz besetzt und mittlerweile wurde das Fach auch in Innsbruck institutionalisiert.
Diese Frage möchte ich in die Bereiche Lehre und Forschung aufteilen. Die Lehre verfolgt das Hauptziel, Studierende der PMU für den Berufswunsch der Allgemeinmedizin zu begeistern. Hierzu ist – neben qualitativ hochwertiger Lehre an der Universität – vor allem die gute Zusammenarbeit mit den über 80 universitären Lehrpraxen für Allgemeinmedizin ein ganz wesentliches Erfolgskriterium. Die praktische Erfahrung im Fach sowie positive Rollenmodelle sind nachweislich sehr starke Motivationsfaktoren. In der Forschung möchte ich – neben den an der PMU gut etablierten Kompetenzen der Grundlagen- und klinischen Forschung – den Bereich Versorgungsforschung weiter ausbauen. In diesem Zusammenhang habe ich dieses Jahr in Kooperation mit zwei weiteren PMU-Instituten das Zentrum für Public Health und Versorgungsforschung gegründet und werde hier auch den Vorsitz übernehmen. Dadurch werden neben spezifisch allgemeinmedizinischen Projekten auch multiprofessionelle und interdisziplinäre Forschungsansätze als Basis für eine zukunftsgerichtete Versorgungsplanung möglich. Die wissenschaftlichen Kompetenzen und das Know-how für diese Aufgaben werden wir ab dem kommenden Jahr in einem im deutschsprachigen Raum einzigartigen Online- Studienangebot für Public Health anbieten (www.pmu.ac.at/public-health).
Das spannende und interessante an meiner Arbeit ist, dass es immer neue Herausforderungen gibt und dass, ähnlich wie in einer Ordination, kein Tag mit dem anderen vergleichbar ist. Neben den Hauptaufgaben – das bedeutet Verantwortung für Lehre und Forschung – gibt es sehr viele, täglich wechselnde Schwerpunkte im Tagesablauf eines Lehrstuhlinhabers: Personalthemen, Management, Generierung von Forschungsmitteln, Netzwerktätigkeit, Austausch mit Studierenden und „last but not least“ Mitarbeit in diversen Gremien, Arbeitsgruppen und Sitzungen.
In der Forschung geht es mir, wie bereits erwähnt, um Themen der Versorgungsforschung. Die wissenschaftliche Arbeit des Instituts soll versorgungsrelevante Fragen beantworten und somit die Bevölkerung direkt oder indirekt erreichen. Im Sinne eines umfassenden Versorgungsdenkens soll zur Verbesserung der multidisziplinären Patientenversorgung beigetragen werden. Aktuelle Forschungsprojekte betreffen z. B. Themen wie Polypharmazie und Multimorbidität, Belastung von Angehörigen von Menschen mit Demenz sowie andere durch die Altersdemografie bedingte Herausforderungen.
Das ist eine gute und sehr wichtige Frage, die ich vorweg mit einer Gegenfrage beantworten möchte: Ist die Teilung eines klinischen medizinischen Faches in ausschließlich klinisch Tätige und ausschließlich in der Wissenschaft Tätige sinnvoll? Meines Erachtens jedenfalls nicht! Dennoch: Die praktische Tätigkeit als Allgemeinmediziner mit den Anforderungen der Universität zu verknüpfen, ist unter den derzeitigen Rahmenbedingungen wirklich alles andere als einfach – aber möglich. Für das Fach Allgemeinmedizin wäre es enorm wichtig, die Kombination der akademischen Karriere mit der allgemeinärztlichen Tätigkeit deutlich zu vereinfachen. Es sollten optional anrechenbare Forschungszeiten während der Ausbildung etabliert werden, analog zum wissenschaftlichen Modul in der Facharztausbildung. Die Möglichkeit, in Teilzeitanstellung hausärztlich zu arbeiten, wäre ebenfalls eine Erleichterung für Kollegen, die Interesse an einer akademischen Laufbahn haben.
Diese Frage lässt sich nicht mit einem einfachen „Ja“ oder „Nein“ beantworten. Wir wissen, dass es unter den Studierenden fachlich-inhaltliches Interesse an der Hausarztmedizin gibt, allerdings sind die derzeitigen administrativen und organisatorischen Rahmenbedingungen oftmals eine gewichtige Barriere. Nun gilt es, diese Rahmenbedingungen so zu gestalten, dass die Tätigkeit in der Allgemeinmedizin zu einer attraktiven Zukunftsperspektive für die nächste Generation wird. Neben der Stärkung des Faches per se – Stichwort: Einführung des Facharztes für Allgemeinmedizin! – ist eine Vielfalt an Organisationsformen in der Primärversorgung erforderlich, die sowohl Selbstständigkeit als auch Anstellung ermöglicht.
Um Studierende für die Tätigkeit in der Primärversorgung zu begeistern, ist vor allem die praktische Erfahrung relevant. Deswegen sind an der PMU neben den Vorlesungen und Kleingruppenarbeiten bereits ab dem ersten Studienjahr Hospitationen und Praktika in den Lehrpraxen für Allgemeinmedizin fixer Bestandteil der studentischen Ausbildung. Darüber hinaus bieten wir den Studierenden in einem Mentoring- Programm den Kontakt zu erfahrenen Hausärzten an. Im letzten Jahr wurde erfolgreich eine Summerschool im Land Salzburg eingeführt, die interessierten Studierenden vor allem den Einblick in die landärztliche Versorgung ermöglicht. Und es ist mein Ziel, gemeinsam mit den Stakeholdern noch weitere innovative Projekte umzusetzen, um den Nachwuchs zu begeistern.
Für mich ist das Besondere an der Allgemeinmedizin die ganzheitliche Betrachtungsweise von medizinischen Fragestellungen, die Herausforderung ist das breite Spektrum der Generalisten mit umfassender Zuständigkeit und das Befriedigende ist die Kontinuität der Betreuung. Und es gibt noch viele weitere Gründe, sich für das Fach zu entscheiden. Das hohe Privileg der kontinuierlichen und umfassenden Patientenbetreuung, teilweise generationenübergreifend, hat tatsächlich nur der Hausarzt!
Hinsichtlich Weiterbildung ist in Salzburg ein ganz wichtiger Schritt gelungen: Ab dem kommenden Jahr wird für alle in Ausbildung zum Allgemeinmediziner stehenden Ärzte im Land ein strukturiertes Begleitprogramm umgesetzt. Gefördert vom Land Salzburg und der Salzburger Gebietskrankenkasse, bietet das Institut für Allgemeinmedizin einen fachspezifischen Begleitlehrgang an und die Ärztekammer Salzburg ein Mentoring- Programm. Im Bereich der Fortbildung bietet das Institut in Kooperation mit der Salzburger Gesellschaft für Allgemeinmedizin regelmäßig eine unabhängige Fortbildungsveranstaltung an. Dieser „Jour fixe Allgemeinmedizin“ ist konzipiert als Plattform für Hausärzte, Ärzte in Ausbildung, aber auch Studierende und wissenschaftliche Mitarbeiter und wird seit zehn Jahren erfolgreich durchgeführt. Gemeinsam mit MR Dr. Christoph Dachs hat das Institut zuletzt eine speziell auf Allgemeinmediziner abgestimmte, 10-teilige DFP-Fortbildungsreihe im Magazin „die PUNKTE“ angeboten. Der erfreulich hohe Rücklauf zeigt uns, dass dieses Angebot gut angenommen wird.
Das medizinische Wissen wächst bekanntlich rasch. Tagtäglich gibt es neue Forschungsergebnisse und Publikationen. Unabhängige Fortbildungen, die neues Wissen in einen praxisrelevanten Kontext stellen, sind erforderlich, um den Wissenschafts-Praxis-Transfer zu erleichtern. Ich denke, dass eine Vielfalt an Formaten angeboten werden muss, um dem persönlichen Bedarf bestmöglich gerecht zu werden. E-Learning erlaubt die individuelle, zeit- und ortsungebundene Bearbeitung, während der Vorteil von Präsenzveranstaltungen die Möglichkeit des kollegialen Austauschs ist.
Wenn ich drei Wünsche für das Fach Allgemeinmedizin offen hätte, dann wären diese: (1) die hierzulande längst überfällige Einführung „Facharzt für Allgemeinmedizin“, (2) eine flexible Vielfalt an Zusammenarbeitsformen in der Primärversorgung und (3) der Aufbau einer adäquaten Versorgungsforschung mit entsprechenden öffentlichen Forschungsmitteln in Österreich. Weitere sinnvolle und wichtige Maßnahmen finden sich im rezent veröffentlichen “Masterplan Allgemeinmedizin” der Österreichischen Gesellschaft für Allgemein- und Familienmedizin (https://oegam.at/masterplan).