Branche im Stresstest

Dr. Marc-Pierre Möll, Geschäftsführer des Bundesverbandes Medizintechnologie (BVMed), warnt vor den Folgen der überbordenden Regulierung durch die EU-Medizinprodukte-Verordnung (MDR). Die einstige Innovationsstärke Europas gerät ins Wanken, während die USA und Asien an Attraktivität gewinnen. Es braucht grundlegende Reform, um Patientenversorgung und Standort wettbewerbsfähig zu halten.

Welche Herausforderungen hat die Medizinprodukte-Industrie aus wirtschafts- und gesundheitspolitischer Sicht gegenüber allen anderen Industrien?
Unsere Branche ist hoch reguliert, da es um die Gesundheit der Menschen, um Krankenversorgung, letztlich also um Fragen von Leben und Tod geht. Europa steht hier als Standort für Gesundheitstechnologien in einem starken Wettbewerb – insbesondere mit den USA und dem asiatischen Raum. Bis vor einigen Jahren war Europa als Standort sehr attraktiv. Innovationen konnten relativ schnell in den Markt eingeführt werden, ohne dass darunter die Sicherheit der Patientinnen und Patienten gelitten hat. Das hat sich mit der EU-Medizinprodukte-Verordnung verändert.

Wie beurteilen Sie derzeit die Standortattraktivität Europas für die Medizinprodukte-Industrie im internationalen Vergleich – insbesondere im Hinblick auf Investitionen, Innovation und regulatorische Rahmenbedingungen?
Die Attraktivität hat durch die MDR enorm gelitten. Wir sind im internationalen Vergleich zu bürokratisch, zu langsam, zu teuer geworden. Wir waren vor der MDR der Erstmarkt für neue Medizinprodukte. Mittlerweile ist die US-amerikanische Zulassungsbehörde FDA deutlich schneller und transparenter – und die Produkte sind dabei genauso sicher. Wir befürchten, dass neue Produkte in Zukunft, wenn überhaupt, nur noch verzögert nach Europa gelangen und den Patientinnen und Patienten zur Verfügung stehen.
Ein Problem ist, dass viele Hersteller aufgrund der Kosten für die Einhaltung der überbürokratischen MDR-Vorschriften ihr Produktportfolio bereinigen und ihre Produkte anpassen mussten, um die MDR-Anforderungen zu erfüllen. Viele Hersteller haben Schwierigkeiten, Kapazitäten bei Benannten Stellen zu finden, um Produkte, die bereits sicher und wirksam auf dem Markt waren, erneut – und diesmal gemäß MDR-Kriterien – in den Verkehr zu bringen. Aufgrund der mangelnden Lenkung der Benannten Stellen und der aktuellen Ineffizienz des regulatorischen Systems liegt der Schwerpunkt der Konformitätsbewertung auf überwiegend administrativen Verfahrensdetails und dem Abhaken von Anforderungen und nicht etwa auf der Bewertung der Fähigkeit des Herstellers, die betreffenden Produkte in seinem Qualitätsmanagementsystem zuverlässig herzustellen.
Unter dieser Thematik leiden natürlich die Entwicklung von Innovationen sowie das Anwerben von Investitionen in den Standort. Wir müssen durch eine MDR-Reform wieder schneller, unbürokratischer und innovationsfreundlicher werden.
Wir wollen als BVMed eine zukunftsweisende Reform, die Patientinnen und Patienten sowie dem Innovationsstandort Europa hilft – keine fortwährenden Klein-klein-Korrekturen. Neben der Ergänzung des derzeitigen Regulierungssystems setzen wir uns daher – gemeinsam mit unserem österreichischen Partnerverband AUSTROMED – für mehr Berechenbarkeit und Transparenz der Prozesse, wirksame Rechtsmittel gegen Marktzugangsentscheidungen, eine Verbesserung der internationalen Zusammenarbeit sowie eine Zentralisierung der Verantwortung ein.

Welche Rolle spielt der Standort Deutschland für die Wettbewerbsfähigkeit der Medizinprodukte-Industrie?
Eine überragende Rolle. Wir sind der zweitgrößte Medizintechnik-Markt der Welt und der mit Abstand größte Markt in Europa. Die Zahlen sprechen für sich:

  • Die MedTech-Branche ist Innovationstreiber. Im Durchschnitt investieren die Unternehmen rund neun Prozent ihres Umsatzes in Forschung und Entwicklung.
  • Die MedTech-Branche ist Jobmotor. Die Medizintechnik-Unternehmen beschäftigen in Deutschland über 265.000 Menschen und stellen 13.000 Ausbildungsplätze in Zukunftstechnologien.
  • Die MedTech-Branche hat 93 Prozent Mittelstands- und Familienunternehmen mit Forschung und Produktion in Deutschland.
  • Die MedTech-Branche ist Exportweltmeister und hat zahlreiche „Hidden Champions“. Die Exportquote der deutschen Medizintechnik liegt bei rund 68 Prozent, der jährliche Gesamtumsatz bei über 40 Milliarden Euro. Werden Kleinbetriebe mitberechnet, sind es sogar über 55 Milliarden Euro.

Das alles zeigt: Wir sind Weltspitze. Noch. Denn unsere Standortbedingungen haben sich deutlich verschlechtert. Wir haben in Deutschland im internationalen Vergleich langfristig zu hohe Energiepreise, überbordende Bürokratie und viel zu hohe Steuern. Wir kämpfen immer noch mit einem handwerklich schlecht gemachten, komplizierten und unklaren regulatorischen System für Medizinprodukte, das Innovationen ausbremst. Wir haben es täglich mit der anhaltenden Regulierungswut und unzähligen Berichtspflichten zu tun, die den Mittelstand ersticken. Wir leiden unter einer schleppenden Digitalisierung des Gesundheitssystems und einer mangelnden Datennutzung.
Wir müssen endlich konsequent gegensteuern. Das hat mittlerweile auch die Politik erkannt und ist aufgewacht. Auf europäischer Ebene reden wir jetzt über einen „Clean Industrial Deal“, um den Standort attraktiver zu machen und die Regulierungswut des „Green Deal“ einzudämmen. Auf nationaler Ebene ist die Medizintechnik im neuen Koalitionsvertrag 2025 explizit als Leitwirtschaft anerkannt. Das ist ein wichtiger Erfolg für uns. Darauf müssen wir nun aufbauen und gemeinsam mit der Politik eine eigenständige MedTech-Strategie erarbeiten. Wir brauchen ressortübergreifend abgestimmte Maßnahmen, die das Versprechen aus dem Koalitionsvortrag, den MedTech-Standort Deutschland zu stärken, umsetzen. Wir brauchen ein klares Bekenntnis der Politik zum Medizintechnik-Standort Deutschland.

Wie sehr beeinflussen globale Entwicklungen die Standortentscheidungen in Ihrer Branche?
Sie spielen eine große Rolle. Die Unruhe über die Zollauseinandersetzungen ist enorm. Wir setzen uns als nationale Branchenverbände allein aus humanitären Gründen für Ausnahmeregelungen für Medizinprodukte ein. Es geht um Patientenversorgung, die nicht gefährdet werden darf.
Medizintechnologien sind von komplexen globalen Lieferketten und fortschrittlichen Materialwissenschaften abhängig. Einige Geräte erfordern bis zu tausend Komponenten aus verschiedenen Regionen, beispielsweise Patientenüberwachungssysteme, Dialysesysteme, In-vitro-Diagnostikgeräte oder Magnetresonanztomografen. Rohstoffe und Halbfertigteile werden häufig zwischen internationalen Produktionsstätten transportiert, um dort einer speziellen Verarbeitung unterzogen zu werden. Die Einführung von Zöllen oder Handelsbeschränkungen würde diese komplexen Prozesse stören und der Medizintechnik-Branche in vielerlei Hinsicht schaden.
Wir sind als Branche auf einen möglichst freien Warenverkehr angewiesen. In der jetzigen Situation ist Europa gut beraten, sich strategisch unabhängiger zu machen, Forschung und Produktion durch Anreizsysteme vermehrt hier anzusiedeln und die Rahmenbedingungen insgesamt innovationsfreundlicher zu gestalten.

Welche Herausforderungen beschäftigen Ihre Mitgliedsunternehmen aktuell am stärksten?
Neben den bereits erwähnten Themen MDR und Zölle ist das in Deutschland derzeit das Thema Krankenhausreform. Ohne Medizinprodukte ist eine Krankenhausversorgung undenkbar. Die Krankenhausversorgung braucht gezielte Investitionen, mehr Transparenz und schnellere Prozesse, um innovative Medizintechnologien den Patientinnen und Patienten zeitnah zur Verfügung stellen zu können.
Die aktuelle Krankenhausreform weist hier noch viele Lücken auf. Jetzt braucht es konkrete Maßnahmen, um die stationäre Versorgung zu stabilisieren, effizienter zu gestalten und langfristig zu verbessern. Ein Beispiel: Der Krankenhaussektor leidet unter einem Investitionsstau, besonders bei veralteter Medizintechnik. Dringend benötigte Anreize und Förderprogramme könnten helfen, energieeffiziente und nachhaltige Technologien in Kliniken und Praxen zu etablieren. Außerdem müssen Leistungsvolumina und Vorhaltebudgets den technologischen Fortschritt realistisch abbilden, um eine lückenlose und bedarfsgerechte Versorgung sicherzustellen. Und wir setzen uns für eine stärkere Qualitätsorientierung durch Transparenz und Anreize ein. Prozess- und Behandlungsergebnisse sollten aus Patientensicht messbar und nachvollziehbar sein. Zudem sind qualitätsabhängige Vergütungsmodelle erforderlich, um Budgets gezielt an hochwertige und effiziente Versorgung zu koppeln.

In welchen Bereichen besteht strategischer Nachholbedarf?
Die digitale Transformation des Gesundheitswesens ist entscheidend für eine effiziente, patientenzentrierte Versorgung und für die zukünftige Entwicklung der Branche. Moderne Medizintechnik, künstliche Intelligenz und Gesundheitsdaten können Prozesse optimieren, die Behandlungsqualität verbessern und den Fachkräftemangel abfedern. Deutschland hinkt jedoch hinterher, insbesondere bei der Nutzung von Gesundheitsdaten für Forschung und Versorgung. Um diese Potenziale auszuschöpfen, müssen regulatorische Hürden abgebaut, Datenzugänge erleichtert und digitale Versorgungskonzepte gezielt gefördert werden.

Mit welchen strukturellen Veränderungen rechnen Sie in der europäischen Medizinprodukte-Branche in den nächsten fünf bis zehn Jahren?
Wir sind optimistisch, dass den Ankündigungen auf europäischer Ebene, die Attraktivität des Wirtschaftsstandorts zu stärken, endlich auch Taten folgen. Die ersten Schritte mit dem Abbau von Berichtspflichten und weiterer Entbürokratisierung sind ermutigend. Die Stärkung von kleinen und mittleren Unternehmen in Europa ist essenziell für eine wettbewerbsfähigere EU, denn der KMU-Anteil liegt in der deutschen Medizintechnik-Branche beispielsweise bei 93 Prozent.

Welche Rolle können Branchenverbände spielen, um den Standort Europa strategisch weiterzuentwickeln?
Wir können unsere Expertise aus Sicht der stark KMU-geprägten Branche in Brüssel einbringen. Wir tun dies, indem wir Positionen proaktiv erarbeiten und frühzeitig Allianzen mit unseren Partnerverbänden bilden. Ein gutes und erfolgreiches Beispiel ist unser umfangreiches und sehr konkretes MDR-Whitepaper aus dem Jahr 2023, das in Brüssel einiges ins Rollen gebracht hat. Auf Grundlage von konkreten Vorschlägen lassen sich dann auch politische Mehrheiten im Rat, dem Parlament und der Kommission organisieren – gemeinsam mit unseren strategischen Partnern und Stakeholdern.