Die Regulierungswelle rollt

Kaum ein anderer Industriesektor in Europa ist derzeit von einer so dichten Welle neuer Regulierungsvorhaben betroffen wie die Medizinprodukte-Branche. Ob Datennutzung, künstliche Intelligenz, Nachhaltigkeit oder Krisenvorsorge – auf nahezu allen Ebenen verändern neue EU-Gesetze die Rahmenbedingungen für Hersteller grundlegend. In den letzten Monaten wurden zahlreiche neue europäische Gesetze verabschiedet oder stehen kurz vor der Umsetzung – darunter der European Health Data Space (EHDS) und der AI Act, die HTA-Verordnung, die EU-Verordnung zur Krisenvorsorge (EU 2022/123), die Allgemeine Produktsicherheitsverordnung (GPSR – EU 2023/988) oder die Ecodesign-Verordnung (EU 2024/1781), um nur einige Beispiele zu nennen. Viele dieser Regelwerke verfolgen ähnliche Ziele, überschneiden sich jedoch teilweise oder stehen sogar im Widerspruch zueinander. Für Unternehmen bedeutet das enorme Herausforderungen bei Compliance, Marktzugang und Produktentwicklung, aber auch Chancen für Innovation, Qualitätssicherung und eine patientenorientierte Versorgung. Oliver Bisazza, Chief Executive Officer von MedTech Europe, ordnet die Entwicklungen ein, benennt Chancen und Risiken und zeigt, wo jetzt politische Weichen gestellt werden müssen, damit Europa als Wirtschaftsstandort wettbewerbsfähig bleibt.

Welche der vielen neuen Anforderungen sehen Sie als besonders prägend für die kommenden Jahre?
Die kommenden Jahre werden vom komplexen Zusammenspiel zwischen der Überarbeitung der sektorspezifischen Gesetzgebung – der MDR und IVDR –, aber auch mit neuen Vorschriften im digitalen Bereich, beispielsweise dem AI Act, dem EHDS und dem Data Act geprägt sein. Nicht einzelne Anforderungen allein, sondern das Zusammenwirken und die Verzahnung dieser Rechtsrahmen werden die Compliance für Hersteller medizinischer Technologien grundlegend neu definieren. Die Bewältigung neuer Verpflichtungen und sich wandelnder Standards wird erhebliche Herausforderungen mit sich bringen, umso wichtiger sind umfassende und zugleich flexible Compliance-Strategien, damit Hersteller in diesem dynamischen Umfeld erfolgreich agieren können.

Sehen Sie Bereiche, in denen sich Widersprüche oder Überschneidungen zwischen den verschiedenen Rechtsrahmen ergeben?
Die parallele Anwendung des AI Act und der IVDR/MDR birgt das Risiko, dass Anforderungen an Risikomanagement, Konformitätsbewertung und Änderungsmanagement doppelt gestellt werden, sofern die Rechtsrahmen nicht besser aufeinander abgestimmt werden.
Der EHDS verfolgt das Ziel, den Zugang von Patientinnen und Patienten zu ihren elektronischen Gesundheitsdaten zu verbessern und deren grenzüberschreitenden Austausch innerhalb der EU zu ermöglichen. In diesem Zusammenhang führt der EHDS Interoperabilitäts- und Sicherheitsanforderungen für „Electronic Health Record (EHR)-Systeme“ ein. Allerdings fehlt es der Verordnung an Klarheit. Durch eine sehr weit gefasste Definition solcher Systeme besteht die Gefahr, dass eine Vielzahl von Produkten – darunter medizinische Technologien und digitale Gesundheitslösungen, die bereits unter die MDR bzw. IVDR fallen – zusätzlich in den Anwendungsbereich einbezogen werden. Dies führt zu rechtlicher Unsicherheit und erhöhter Komplexität für Hersteller medizinischer Geräte, die oft schwer abschätzen können, welche ihrer Produkte betroffen sind.
Künftig ist eine praxisnahe und rechtssichere Auslegung erforderlich, die auch die komplexe Architektur innovativer und hochspezialisierter Medizintechnologien berücksichtigt.
Während sich der EHDS konkretisiert, bleibt offen, wie er sich mit anderen neuen Regelwerken, etwa dem Data Act oder dem AI Act, überschneiden wird.

Wird auf die doch sehr komplexen Anforderungen des Gesundheitssektors ausreichend Rücksicht genommen?
Wir beobachten, dass horizontale Gesetzgebung wie der Data Act nicht zwingend so konzipiert und umgesetzt ist, dass sie den sektorspezifischen Gegebenheiten Rechnung trägt. Wie bereits im gemeinsamen Positionspapier von MedTech Europe und COCIR, dem Europäischen Koordinierungskomitee der radiologischen, elektromedizinischen und Gesundheits-IT-Industrie, dargelegt, bringt die Anwendung des Data Act im Gesundheitssektor besondere und hochkomplexe Herausforderungen mit sich. Die horizontalen Pflichten zum Zugang zu Rohdaten können potenziell mit den sektorspezifischen Schutzmaßnahmen des EHDS kollidieren, was zu einer rechtlichen Unsicherheit und erhöhten Compliance-Belastungen für Hersteller führt. Dies unterstreicht, wie wichtig es ist, neue Vorgaben zum Datenaustausch mit etablierten Schutzmechanismen in sensiblen Bereichen wie dem Gesundheitswesen zu harmonisieren.

Welche Regelungen sind Ihrer Ansicht nach derzeit am wichtigsten für die Medizinprodukte-Branche?
Die wichtigste gesetzgeberische Initiative ist die laufende Überarbeitung des regulatorischen Rahmens für Medizinprodukte und In-vitro-Diagnostika (MDR/IVDR), deren Abschluss für Ende 2025 vorgesehen ist. Diese Regelwerke spielen eine zentrale Rolle, wenn es darum geht, Sicherheit zu gewährleisten und Innovationen in Europa zu fördern. Nun gilt es, sie so zu verbessern, dass sie berechenbarer, innovationsfreundlicher und effizienter werden. Gleichzeitig sind kurzfristige Entlastungsmaßnahmen entscheidend, um das System während des Reformprozesses zu stabilisieren. Dazu gehören harmonisierte Vorgaben für Benannte Stellen, Pilotprojekte und beschleunigte Verfahren für bahnbrechende sowie pädiatrische Produkte und eine gezielte Verschiebung von Rezertifizierungsanforderungen, um Engpässe zu vermeiden und die Verfügbarkeit von Produkten sicherzustellen. Diese Maßnahmen sind von zentraler Bedeutung, um Europas globale Wettbewerbsfähigkeit zu stärken.

Wo sehen Sie Chancen durch die neuen Regularien?
Eine gut strukturierte Reform der IVDR/MDR bietet die Chance, einen agileren Rechtsrahmen zu schaffen, der den raschen Zugang zu innovativen Medizinprodukten beschleunigt, unnötige administrative Doppelgleisigkeiten vermeidet und insgesamt die Komplexität reduziert, sodass er Europas Attraktivität für Forschung und Innovation stärkt.
Gleichzeitig eröffnet die Einführung beschleunigter Verfahren für bahnbrechende, seltene (Orphan) und pädiatrische Produkte – kombiniert mit einer stärkeren Governance und einer nachhaltigeren Ausstattung des Regulierungssystems – die Möglichkeit, Europa als globalen Vorreiter im Bereich Medizintechnologie zu positionieren. Damit kann sichergestellt werden, dass Patientinnen und Patienten rechtzeitig Zugang zu lebensrettenden und lebensverbessernden Medizinprodukten erhalten.

Wo sehen Sie die größten Stolpersteine?
Die größten Hürden liegen in den Umsetzungsproblemen der derzeitigen IVDR/MDR-Regelwerke. Dazu zählen die begrenzten Kapazitäten der Benannten Stellen, Verwaltungsprozesse, die nicht im Verhältnis zu den tatsächlichen Risiken stehen, sowie die mangelnde Vorhersehbarkeit von Konformitätsbewertungen.
Diese Herausforderungen drohen, Innovationen auszubremsen und insbesondere für kleine und mittlere Unternehmen (KMU) hohe Markteintrittsbarrieren zu schaffen – mit negativen Folgen für Europas Wettbewerbsfähigkeit und den rechtzeitigen Zugang der Patientinnen und Patienten zu Medizintechnologien. Ohne kurzfristige Korrekturmaßnahmen und eine gut strukturierte langfristige Reform wird das System weiter unter Druck stehen und seine Ziele nicht vollständig erreichen können.

Wie groß ist der Anpassungsbedarf für Hersteller, etwa im Hinblick auf Datennutzung, die Interoperabilität oder den Datenschutz?
Der Anpassungsbedarf für Hersteller ist erheblich, insbesondere da die Umsetzung EHDS in den kommenden Jahren voranschreiten wird. Obwohl der regulatorische Rahmen einen gestaffelten Zeitplan vorsieht, müssen die meisten Infrastrukturen bis 2029 vorbereitet und mit den neuen Anforderungen konform sein.
Hersteller von Technologien, die als „EHR-Systeme“, die elektronische Gesundheitsakten-Systeme, eingestuft werden oder Interoperabilität mit solchen Systemen beanspruchen, müssen sicherstellen, dass ihre Lösungen den regulatorischen Vorgaben des EHDS hinsichtlich Interoperabilität, Sicherheit und technischer Spezifikationen entsprechen und dabei gleichzeitig weiterhin die Anforderungen der Datenschutzgesetze erfüllen.
Mit Blick in die Zukunft ist es entscheidend, offene Fragen des Zusammenspiels zwischen dem EHDS und anderen Gesetzesrahmen zu klären. Ohne eine klare Abstimmung und Orientierung drohen Herstellern sich überschneidende oder sogar widersprüchliche Verpflichtungen, die zu einer höheren administrativen Belastung und größerer rechtlicher Unsicherheit führen können.

Wo sehen Sie noch Lücken oder Unsicherheiten bei der praktischen Umsetzung?
Ein zentraler Punkt im Zusammenhang mit der praktischen Umsetzung des EHDS ist, dass viele entscheidende technische Aspekte, beispielsweise die technischen Spezifikationen zur Interoperabilität, bislang noch offen sind. Diese Details sollen in künftigen sekundären Rechtsakten, den sogenannten Implementing Acts, der Durchführungsrechtsakte, geregelt werden. Obwohl mit iher Finalisierung bis 2027 gerechnet wird, entsteht dadurch ein sehr enger Zeitrahmen für Hersteller und andere betroffene Akteure, um sich auf die neuen Anforderungen vorzubereiten und diese zu erfüllen. Solange die Durchführungsrechtsakte noch nicht veröffentlicht sind, besteht eine gewisse Unsicherheit über die konkreten technischen und operativen Verpflichtungen. Daher wird es für alle vom EHDS betroffenen Akteure entscheidend sein, die gesetzgeberischen Entwicklungen eng zu verfolgen und frühzeitig mit der Planung der Umsetzung zu beginnen, um eine rechtzeitige Compliance sicherzustellen.

Welche spezifischen Herausforderungen stellt der AI Act für Hersteller dar?
Der AI Act bringt für Hersteller von Medizinprodukten mehrere Herausforderungen mit sich. Dazu zählen unter anderem das Risiko einer doppelten Regulierung durch gleichzeitige Anforderungen des AI Act sowie der IVDR/MDR, das Fehlen verbindlicher Klarheit bei Produkten, die sich noch in der Erprobungs- oder Leistungsbewertungsphase befinden, sowie Unsicherheiten darüber, ab wann eine „wesentliche Änderung“ vorliegt.
Auch die Benennung von Benannten Stellen mit dem passenden Geltungsbereich und der erforderlichen technischen Kompetenz stellt eine Herausforderung dar. Darüber hinaus könnte die späte Verfügbarkeit harmonisierter KI-Standards zu zusätzlicher Unsicherheit führen und Innovationen verlangsamen.

Wie lassen sich die hohen Anforderungen an Transparenz und Risikoklassifizierung mit den Innovationszyklen in der Medizintechnik vereinbaren?
Das kann erreicht werden, indem ein einheitliches Verfahren für Konformitätsbewertung und Dokumentation etabliert wird, das in der IVDR/MDR verankert ist. Klare Regeln für das Änderungsmanagement („Change Control“) sind notwendig, damit routinemäßige Software- oder Algorithmus-Updates nicht automatisch eine vollständige Neubewertung auslösen. Zudem trägt die Orientierung an international anerkannten Standards dazu bei, für Hersteller Planungssicherheit zu schaffen und gleichzeitig die Sicherheit und Leistungsfähigkeit von Medizintechnologien zu gewährleisten.

Welche Belastungen wird diese Vielzahl neuer Gesetze für die Medizinprodukte-Branche mit sich bringen?
Die Einführung mehrerer neuer Gesetze wird es der Medizinprodukte-Branche zunehmend erschweren, sich im regulatorischen Umfeld zurechtzufinden, und für Hersteller mit erheblichem Ressourcenaufwand verbunden sein.
Die kumulative Wirkung dieser Regelwerke kann zu deutlich höheren Compliance-Kosten führen, zusätzliche Berichtspflichten und Dokumentationsanforderungen erzeugen und einen erheblichen Qualifizierungsbedarf des Personals in Bereichen wie KI-Governance, Datenschutz und Interoperabilität erforderlich machen. Daraus ergibt sich auch ein größerer Personalbedarf, um das komplexe Zusammenspiel der verschiedenen Regelungen zu bewältigen und die laufende Einhaltung sicherzustellen.
Zudem besteht die Gefahr neuer Engpässe bei der Zulassung, wenn Benannte Stellen nicht rechtzeitig vorbereitet sind. Verzögerungen beim Marktzugang könnten ebenfalls auftreten, wenn das Zusammenspiel zwischen horizontalen Regelwerken und sektorspezifischen Vorgaben (IVDR/MDR) nicht eindeutig geklärt ist.

Wie unterstützt MedTech Europe die Unternehmen bei der Bewältigung dieser Anforderungen?
MedTech Europe spielt eine aktive Rolle bei der Unterstützung der Hersteller, indem der Verband die Bedürfnisse der Branche in klare politische Handlungsempfehlungen übersetzt und diese direkt an Entscheidungsträger kommuniziert. Durch den regelmäßigen Dialog mit der Europäischen Kommission, dem Europäischen Parlament, dem Rat sowie den nationalen Behörden und in der Zusammenarbeit mit den nationalen Verbänden stellt MedTech Europe sicher, dass die Stimme der Branche in jeder Phase des Gesetzgebungsprozesses gehört wird und gibt gleichzeitig aktuelle Informationen und Orientierungshilfen an die Mitglieder weiter. Wir bieten außerdem Plattformen für Wissensaustausch, Schulungen zu regulatorischen Themen und Möglichkeiten zur gemeinsamen Lösungsfindung, um der Branche die Anpassung an neue Anforderungen zu erleichtern.

Welche Rolle spielt MedTech Europe dabei, diese Themen in Brüssel sichtbar zu machen und Lösungen voranzubringen?
MedTech Europe spielt eine zentrale Rolle, indem der Verband Branchenexpertise bündelt, Möglichkeiten aufzeigt, die Kohärenz zwischen verschiedenen Rechtsvorschriften zu verbessern, und sich konstruktiv mit EU-Entscheidungsträgern, wie der Europäischen Kommission, dem Europäischen Parlament und dem Rat sowie mit anderen relevanten Akteuren, darunter europäische Organisationen von Patientinnen und Patienten, Gesundheitsfachkräften und der gesamten Gesundheitscommunity, auseinandersetzt. Als Plattform sorgt MedTech Europe dafür, dass die praktischen Herausforderungen der Hersteller auf EU-Ebene sichtbar werden, und entwickelt Lösungsvorschläge, die mit politischen Entscheidungsträgern diskutiert werden können.