© New Africa-stock.adobe.com In vielen Industrieländern stammen über 50 Prozent der täglichen Kalorien aus ultra-verarbeiteten Lebensmitteln. Nach „Lancet“-Studien gibt es jetzt Kritik aus der UNO und erste Klagen gegen Hersteller.
Kinder weltweit essen immer mehr hochverarbeitete Lebensmittel – mit gefährlichen Folgen für Gesundheit, Wachstum und Psyche. Zu diesem Ergebnis kommt eine neue UNICEF-Analyse, die zusammenfasst, wie sehr sogenannte ultra-verarbeitete Produkte (UPFs) den Alltag von Kindern und Jugendlichen bestimmen. Der Bericht baut auf einer kürzlich veröffentlichten Serie von Studien im Fachjournal „The Lancet“ auf. Diese Untersuchungen arbeiteten die gesundheitlichen Risiken und die Rolle der Industrie bei der Verbreitung solcher Produkte detailliert auf.
UPFs bestehen häufig aus einer Mischung aus Zucker, Salz, ungesunden Fetten, industriellen Stärken und zahlreichen Zusatzstoffen wie Emulgatoren, Farbstoffen oder Aromastoffen. Viele Kinder werden weltweit schon in den ersten Lebensjahren damit konfrontiert, heißt es in dem Bericht. Viele industriell hergestellte Beikostprodukte sind stark verarbeitet und selbst in extremer Armut lebende Kleinkinder konsumieren häufig süße Getränke: In elf untersuchten Ländern waren es zehn bis 35 Prozent der unter Fünfjährigen. Mit zunehmendem Alter steigt der Konsum weiter: 60 Prozent der Jugendlichen nahmen zuletzt mindestens ein süßes Produkt am Vortag zu sich. In vielen Industrieländern stammen über 50 Prozent der täglichen Kalorien aus UPFs. Diese Lebensmittel seien für die Industrie zwar profitmaximierend, aber nicht kindgerecht, so die Analyse.
Die Wirkung sei zweifach, heißt es in dem Bericht: UPFs fördern Übergewicht, weil sie viele dicht gepackte Kalorien haben und leicht zu überessen sind. Und sie begünstigen gleichzeitig Mangelernährung, weil sie wenig Vitamine und Mineralstoffe liefern und vollwertige Lebensmittel verdrängen. Studien zeigen demnach zudem Verbindungen zu etwa chronischen Wachstumsstörungen, Depression, Hyperaktivität und Schulleistungsproblemen. Der Anteil übergewichtiger Kinder und Jugendlicher habe sich seit 2000 verdoppelt, und 2025 habe es erstmals mehr adipöse als untergewichtige Kinder gegeben, so UNICEF. Obwohl UPFs an der Supermarktkasse oft billig wirken, seien sie langfristig teuer: Für viele Familien steigen die Kosten später indirekt durch häufigere Arztbesuche, höhere Ausgaben für Medikamente und Krankheiten, die mit schlechter Ernährung zusammenhängen.
Laut UNICEF drohen Staaten Milliardenkosten durch chronische Krankheiten, Produktivitätsverluste und Gesundheitsausgaben. In China und Mexiko entsprächen die Lebenszeitkosten unbehandelter kindlicher Adipositas schon bis zu drei Prozent der gesamten jährlichen Wirtschaftsleistung. Das Problem läge nicht an falschen Entscheidungen einzelner Familien, sondern an aggressivem Marketing und einer von Konzernen dominierten Lebensmittelumgebung, schreibt UNICEF. Die große Mehrheit der Jugendlichen weltweit sähe ständig Werbung für Softdrinks, Snacks oder Fast Food, selbst in Konfliktregionen. Schulen, Sportstätten und Kitas würden häufig durch Sponsoren-Deals mit UPF-Produkten geflutet. Die Lancet-Serie beschreibt, wie die Industrie Lobbying, zielgerichtete Forschung zur Verunsicherung, Rechtsdrohungen und politische Einflussnahme nutzt, um strengere Regeln zu verhindern.
Mögliche Lösungsansätze wären UNICEF zufolge umfassende Werbeverbote, deutliche Warnhinweise auf der Vorderseite von Verpackungen sowie ein konsequentes Verbot von UPFs und Sponsoring an Schulen. Zudem plädiert der Bericht für Steuern auf zuckergesüßte Getränke und für Subventionen, die Obst, Gemüse und Hülsenfrüchte erschwinglicher machen sollen. Auch strengere Vorgaben für Rezepturen – etwa weniger Salz und die vollständige Entfernung industrieller ungesunder Fette – sind Teil des Maßnahmenpakets. Die Stadt San Francisco geht noch weiter und zieht gegen Lebensmittelriesen wegen des Verkaufs stark verarbeiteter industrieller Fertigprodukte vor Gericht. Verklagt werden unter anderem Coca-Cola, Pepsico, Kraft Heinz, Mondelez, WK Kellogg und Mars. San Francisco verweist in der Klage unter anderem auf die „Lancet“-Studien. San Franciscos Staatsanwalt David Chiu warf den Unternehmen bei der Vorstellung der Klage vor, mit dem Verkauf schädlicher Lebensmittel eine Gesundheitskrise ausgelöst zu haben. Die Stadt fordert in der Klage unter anderem ein Verbot „irreführender“Vermarktung der Lebensmittel und finanzielle Wiedergutmachung für den Schaden, der in San Francisco entstanden sei.
Eine Unternehmensvereinigung wies die Kritik zurück. Es gebe keine allgemein akzeptierte wissenschaftliche Definition ultraverarbeiteter Lebensmittel, und es sei irreführend für Verbraucher:innen, Produkte für ungesund zu erklären, nur weil sie verarbeitet seien, argumentiert die Gruppe Consumer Brands Association. San Francisco war in den 1990er Jahren erfolgreich mit einer Klage gegen die Tabak-Industrie, die mit einer Zahlung von 539 Millionen Dollar endete. Die Stadt zieht Parallelen zum damaligen Fall und wirft der Lebensmittel-Branche unter anderem vor, süchtig machende Produkte geschaffen zu haben. (rüm/APA)
Service: Lancet-Publikation