Psychische Erkrankungen: führender Grund für „verlorene Lebenszeit“

„Die Häufigkeit psychischer Erkrankungen ist deutlich höher als lange angenommen. Rund 450 Millionen Menschen weltweit leiden an psychischen Erkrankungen, allein in Europa sind es rund 165 Millionen Menschen“, sagte Prim. Univ.-Prof. Dr. Michael Musalek, Anton Proksch Institut, Wien, Präsident des vor Kurzem in Wien stattgefundenen Internationalen Kongresses der Welt-Psychiatriegesellschaft WPA. „Es ist wichtig, dass wir psychische Erkrankungen als medizinisches, gesellschaftliches und wirtschaftliches Thema sichtbarer machen. Sie haben einen enormen Einfluss auf den Alltag, das Arbeits- und Familienleben, sie verursachen nicht nur millionenfaches persönliches Leid, sondern sind auch gesellschaftlich und volkswirtschaftlich weitaus relevanter als häufig angenommen.“

Depressionen für 40% der psychischen DALY verantwortlich

Laut der umfassenden „Global Burden of Disease Study“, die die weltweite Belastung durch verschiedene Krankheitsgruppen erhebt, machen psychische Erkrankungen weltweit 183,9 Millionen so genannte DALY (Disability Adjusted Life Years: die Zahl der verlorenen Lebensjahre durch vorzeitigen Tod kombiniert mit dem Verlust an Lebenszeit durch Behinderung) aus – und damit 7,5% der gesamten weltweiten Krankheitslast. Bei den YLD (Years Lived with Disability: Verlust an Lebenszeit durch krankheitsbedingte Behinderung) liegen psychische Erkrankungen mit 22,9% an der Spitze. Besonders häufig sind Depressionen, die allein für 40,5% der psychischen DALY verantwortlich sind, gefolgt von Angststörungen (14,6%), Abhängigkeit von illegalen Substanzen (10,9%), Alkoholmissbrauch und -abhängigkeit (9,6%), Schizophrenie (7,4%) und bipolaren Erkrankungen (7%).
Wobei diese Erkrankungen enorme Zuwachsraten haben: „Die globale Krankheitslast durch psychische Erkrankungen ist zwischen 1990 und 2010 um 37,6% gestiegen“, berichtete Musalek.
Prognostiziert werden weitere massive Anstiege dieser Erkrankungen: WHO-Schätzungen gehen davon aus, dass Depressionen (unipolare depressive Erkrankungen), 2002 noch an vierter Stelle im weltweiten „DALY-Ranking“, bis 2030 an die zweite Stelle nach HIV/AIDS vorrücken wird. In den Industrieländern, so die WHO-Prognose, werden depressive Erkrankungen 2030 die führende Ursache von DALY sein, Alkoholabhängigkeit die fünfthäufigste. In Europa sind aktuellen Schätzungen zufolge z.B. 61,5 Millionen Menschen von Angststörungen betroffen, 30,3 Millionen von Depression und 14,6 Millionen von Alkoholabhängigkeit.

Hohe Kostenbelastungen

Das alles bedeutet auch eine erhebliche Belastung für Gesundheitssysteme und Volkswirtschaften: Neuropsychiatrische Erkrankungen insgesamt belasten allein die Volkswirtschaften Europas mit jährlich 798 Milliarden Euro, zeigt eine aktuelle Studie. „Psychische Erkrankungen haben mit 165 Millionen Betroffenen daran den überwiegenden Anteil, das wird häufig unterschätzt“, betonte Musalek. Die durch psychische Erkrankungen entstehenden Kosten werden in Europa – eingeschlossen sind in die Berechnung die 27 EU-Staaten sowie die Schweiz, Norwegen und Island – mit jährlich 93,9 Milliarden Euro beziffert, so die jüngsten, vom European Brain Council und der CDBE2010 Study Group publizierten Zahlen. Hohe Kosten verursachen auch Angststörungen (74,4 Milliarden Euro) und Abhängigkeitserkrankungen (65,7 Milliarden Euro). Persönlichkeitsstörungen schlagen sich mit 27,3 Milliarden Euro zu Buche.
Die Gesamtkosten von 798 Milliarden Euro bestehen nur zu 37% aus direkten Behandlungskosten. Der Rest sind direkte nichtmedizinische Kosten (23%) und indirekte Kosten (40%), die beispielsweise durch Krankenstände und Frühpensionierungen entstehen. Errechnet wurden diese Zahlen aus der Einjahresprävalenz der Erkrankungen und den geschätzten Kosten pro Fall und Jahr.
„In Österreich nehmen Daten des Hauptverbandes zufolge, rund 900.000 Menschen jährlich das Gesundheitswesen wegen psychiatrischer Diagnosen in Anspruch – das sind 10% aller Versicherten“, so Musalek. „Das liegt deutlich unter der europaweit erhobenen Jahresprävalenz von 38%. Wir müssen also davon ausgehen, dass viele Betroffene nicht in Behandlung sind.“
In Österreich sind psychische Erkrankungen laut Daten der Statistik Austria mit 54% die Hauptursache für Invalidität bzw. Arbeitsunfähigkeit in der Altersgruppe von 15–50 Jahren. Mehr als 60% der Neuzugänge zur Invalidität bei den unter-40-Jährigen resultieren aus psychischen Erkrankungen. Lag die Zahl der Krankenstandfälle aufgrund von psychischen Erkrankungen im Jahr 2000 hierzulande noch bei 17,2 pro 1.000 Erwerbstätige, stieg sie bis 2012 auf 28,4 an.
„Die Wirtschaftskrise ist auch eine Krise der psychischen Gesundheit in Europa. Nicht nur typische Begleiterscheinungen von Rezession wie Arbeitslosigkeit tragen zu einer Zunahme der Häufigkeit psychischer Erkrankungen bei, sondern auch Sparmaßnahmen bei Gesundheits- und Sozialausgaben“, sagt Chefarzt Dr. Georg Psota, Präsident der Österreichischen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie (ÖGPP) und Leiter des Psychosozialen Dienstes, Wien. „Dabei brauchen gerade strauchelnde Volkswirtschaften Investitionen in die soziale Absicherung und in die Vorbeugung, Früherkennung und Behandlung psychischer Erkrankungen. Jeder hier eingesetzte Euro rechnet sich.“
Inzwischen weisen immer mehr Studien nach, welche unmittelbaren negativen Auswirkungen Krise und Sparprogramme auf den psychischen Gesundheitszustand der Menschen und die Gesundheitsversorgung haben. So bestätigt sich die Erfahrung, die mit vorangegangenen Krisen gemacht wurde, zum Beispiel in dramatischer Weise beim Thema Suizide. Die Zahl der Selbsttötungen in der Altersgruppe unter 65 Jahren ist seit 2007 EU-weit angestiegen – in Griechenland sogar um 60%, in Irland von 2010–2011 um 7%. „Ein Anstieg der Arbeitslosenrate um 1%, zeigt eine EU-weite Studie, geht mit einem Anstieg der Selbsttötungen um 0,79% einher“, berichtet Psota. „Steigt die Arbeitslosenrate um mehr als 3% an, steigt die Suizidrate bei Menschen unter 65 Jahren sogar um 4,45%, die Zahl der alkoholbedingten Todesfälle steigt um 28%.“
34% der Arbeitslosen haben psychische Probleme, bei Personen mit einer gesicherten Arbeitsstelle sind es 16%. In Irland stieg seit Beginn der Krise die Einnahmehäufigkeit von Sedativa und Tranquilizern. Sowohl in Griechenland als auch in Spanien nahm zwischen 2006 und 2010 die Prävalenz psychischer Störungen signifikant zu, den höchsten Anstieg verzeichneten Depressionen. Wobei diese, wie eine Untersuchung zeigt, nicht nur mit steigender Arbeitslosigkeit, sondern etwa auch mit Schulden oder Schwierigkeiten Wohnungskredite abzuzahlen, assoziiert sind.
Die Wirtschaftskrise fördert aber nicht nur, dass Menschen psychische Erkrankungen entwickeln, sie trifft auch Menschen besonders hart, die bereits an psychischen Erkrankungen leiden. So zeigt eine aktuelle Untersuchung, dass in den EU-Staaten bei steigenden Arbeitslosenquoten die Arbeitslosigkeit unter Menschen mit psychischen Erkrankungen deutlich stärker zunimmt als in der Allgemeinbevölkerung. „Das zeigt auch, dass sich in wirtschaftlich schwierigen Zeiten die soziale Exklusion von Menschen mit psychischen Erkrankungen intensiviert, was sich wiederum negativ auf den Krankheitsverlauf auswirkt“, so Psota.

Investitionen zur Förderung psychischer Gesundheit rechnen sich

Krisen wirken sich negativ auf die Gesundheit, einschließlich der psychischen Gesundheit, aus. Umgekehrt haben psychische Gesundheitsprobleme aber auch Auswirkungen auf die ökonomische Entwicklung.
Die ökonomischen Folgen psychischer Gesundheitsprobleme, überwiegend in Form von Produktivitätsverlusten, werden für die Länder der EU auf durchschnittlich 3–4% des Bruttosozialprodukts geschätzt.
Es gäbe aber auch sehr gute Beispiele dafür, meinte Psota, wie Investitionen in soziale Absicherung und psychische Gesundheit statt Einsparungen nicht nur in wirtschaftlicher Hinsicht positive Effekte entwickeln könnten: „Für je 100 US-Dollar, die pro Person für aktive Arbeitsmarktprogramme ausgegeben werden, reduzierten sich die Auswirkungen der Arbeitslosigkeit auf die Suizidrate um 0,38%. Leider werden aber gerade solche Maßnahmen im Zug der Sparmaßnahmen in vielen Ländern eingeschränkt.“
Nicht nur Investitionen in die soziale Absicherung und Beschäftigungsprogramme rechnen sich – auch direkte Investitionen in Prävention, Früherkennung und Behandlung von psychischen Erkrankungen, wie Untersuchungen zeigen.
„Wir wären – schon aus volkswirtschaftlicher Sicht – gut beraten, gerade in wirtschaftlich schwierigen Zeiten nicht bei der psychischen Gesundheit zu sparen, sondern auch in Österreich effektive psychiatrische und psychotherapeutische Leistungen zu erweitern“, so Psota. „Denn neben dem individuellen Leid wird es auch finanziell teuer kommen, wenn wir es nicht tun.“