8. Österreichischer Primärversorgungskongress

© Antonia Sendlhofer

Das spiegelt natürlich nicht ganz die derzeitige Wirklichkeit der österreichischen Primärversorgung wider – der bei weitem größte Anteil der österreichischen Hausärzt:innen ist in Einzelpraxen tätig.
Dennoch wird immer wieder betont, dass die medizinische Primärversorgung multiprofessionelle Betreuung von „komplexen Patient:innen“ braucht. Diese Interdisziplinarität können bzw. müssen PVE aufgrund ihres Konzeptes und der Vorgaben in hoher Qualität anbieten.

Eine Frage der Kompetenz

Gesundheitskompetenz war ein Thema, dass sich durch den gesamten Kongress gezogen hat. Eine Vielzahl wissenschaftlicher Studien belegt, dass sich diese Fähigkeit, gesundheitsbezogene Informationen für die eigene Gesundheitserhaltung anzuwenden, auf zahlreiche Parameter (Ernährungs- und Bewegungsverhalten, Krankenstände, Inanspruchnahme des Gesundheitssystems sowie speziell der Krankenhäuser u. v. m.) positiv auswirkt. Leider ist mangelnde Gesundheitskompetenz auch in Österreich weit verbreitet: In einer Befragung von 3.000 Österreicher:innen ab dem 19. Lebensjahr zeigte sich, dass 56 % der in Österreich lebenden Menschen eine zu geringe Gesundheitskompetenz haben. Seit der ersten Befragung im Jahr 2012 sind zwar zahlreiche Projekte entstanden, gleichzeitig sind die Anforderungen an die Gesundheitskompetenz jedoch deutlich gestiegen.

Qualität an erster Stelle

Auch internationale Referent:innen wie Dr.in Dionne Kringos aus Amsterdam betonten, wie wichtig eine hohe Qualität der Primärversorgung für den Gesundheitszustand der Bevölkerung ist – aus Gründen der Ökonomie, wegen einer höheren Effektivität oder aus sozialen Gründen. Zudem soll diese Qualität gemessen und es sollen praktische Konsequenzen aus den Messungen gezogen werden.

Zahl der Kassenärzt:innen stagniert

In Österreich hat sich die PV in den letzten 10 Jahren deutlich gebessert, dennoch sind wir durch eine Versorgungskrise bedroht. Das macht Dr. Clemens Auer sehr deutlich: Seit 2013 stagniert die Zahl der Kassenärzt:innen – bei gleichzeitig steigender Bevölkerungszahl und zunehmender Überalterung mit entsprechender Komplexität an Krankengeschichten. Im selben Zeitraum ist die Zahl der Wahlärzt:innen um ca. 30 % angestiegen, was natürlich deutlich im Widerspruch zum österreichischen Sozialsystem steht. Dr. Auer fürchtet, dass bei fehlender weiterer Verbesserung zunehmend private Anbieter:innen in den Markt der medizinischen Primärversorgung drängen werden.

Primärversorgung

Berichtet wurde auch über die aktuellen (August 2023) Anpassungen des PV-Gesetzes von 2017: In einer Primärversorgungseinheit dürfen ab sofort auch nichtärztliche Berufsgruppen als Gesellschafter:innen einsteigen, die Mindestgröße wurde von 3 auf 2 Ärzt:innen pro Einheit reduziert. Ein erstes Kinder-PVE in Wien ist bereits eröffnet, 4 weitere stehen in der Pipeline.

Honorarsystem

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Mag. Franz Kiesl (ÖGK) kämpft seit Jahren um eine Harmonisierung u. a. des Honorarsystems in ganz Österreich:
ein ganz schwieriges Unterfangen bei 9 verschiedenen Ärztekammern und zu vielen Stakeholdern. Leider wurde die österreichische Primärversorgung viele Jahre „schlecht geredet“, diese dadurch hervorgerufene negative Stimmung hat sich erst in den letzten wenigen Jahren zum Positiven gewendet.

Personalprobleme

Spannend war auch der Vortrag von Dr. Martin Sprenger über die Personalprobleme im österreichischen Gesundheits- und Sozialsystem: In Österreich ist die Anzahl der Ärzt:innen bzw. des Pflegepersonals pro 1.000 Einwohner:innen deutlich über dem EU-Schnitt, dennoch besteht ein Ärzte- und Pflege-Notstand. Ein Paradoxon, das viele Gründe hat, u. a. zunehmender Betreuungs- und Pflegebedarf durch die steigende Anzahl an chronischen Erkrankungen, die Krankenhauslastigkeit des österreichischen Gesundheitssystems, eine „neue Arbeitskultur“ der Generation Z. Professionelle Personalplanung braucht Register: Ein Ärzteregister gibt es bereits seit 1913, ein Register für Gesundheitsberufe erst seit 2018.

Jungärzt:innen

Dr.in Julia Schirgi (JAMÖ) beschreibt den Wunschberuf Hausärzt:in aus Sicht der Jungärzt:innen. Dr.in Andrea Siebenhofer-Kroitzsch beklagt die nach wie vor unzureichende akademische Verankerung der Allgemeinmedizin – auch wenn sich in den letzten 10 Jahren hier einiges gebessert hat. Dennoch besteht kaum finanzielle Unterstützung von Studien zur Primärversorgung, weniger als 3 Promille aller Studien in Österreich beschäftigen sich damit.

Blick in die Zukunft

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Faszinierend und gleichzeitig erschreckend empfand ich genauso wie die meisten anderen Kongress-Teilnehmer:innen die Darstellung von Dr. Gerlach (Goethe-Universität Frankfurt) von der Primärversorgung im Jahre 2040: Mega-Konzerne wie Amazon dringen zunehmend ins Gesundheitssystem ein, auch die Primary Care ist finanziell attraktiv. Vorübergehend wurde Ende Dezember 2022 der virtuelle Gesundheitsdienst „Amazon Care“ eingestellt, im Hintergrund wird jedoch intensiv an neuen telemedizinischen Entwicklungen gearbeitet – so auch z. B. beim deutschen Anbieter doktor.de.

2 große Probleme werden im Rahmen von KI-Trends in der Medizin auftreten: ein Übervertrauen in Assistenzsysteme („automatism bias“) und ein Fertigkeitsverlust der Ärzt:innen („de-skilling“).

Dr. Gerlach hat abschließend einige Thesen zur Primärversorgung im Jahr 2040 aufgestellt:

  • Die medizinische Primärversorgung wird Patientenkontakte teilweise verlieren, Technologie-Giganten übernehmen einen Teil der PV und der Patientensteuerung. Plattformökonomische Wertschöpfungsketten werden sich durchsetzen.
  • Krankenhausaufenthalte werden durch zunehmende „Ambulantisierung“ zur Ausnahme.
  • Die Primärversorgung muss in Zukunft multiprofessionell sein, die Primärversorgung bietet auch Hospital at Home an, so z. B. Videomonitoring, digitale Devices u. a. Empathischer Zugang zu Patient:innen wird zunehmend wichtiger, gemeinsam mit Patient:innen wird hinsichtlich evidenzbasierter Diagnostik und Therapie entschieden, Patient:innen müssen vor Überdiagnostik und -therapie geschützt werden. Einen limitierenden Faktor wird die digitale Gesundheitskompetenz älterer Patient:innen darstellen.
  • Die akademische Allgemeinmedizin muss unbedingt die tiefgreifenden Veränderungen mitberücksichtigen, es wird sehr wohl auch Nutzen (und nicht nur Gefahren) von künstlicher Intelligenz und Telemedizin geben.

In der österreichischen Primärversorgung tut sich insgesamt einiges: Das ist vonnöten, die Geschwindigkeit der Anpassungen an die Herausforderungen unserer Zeit ist nach wie vor nicht optimal, sodass die Gefahr, dass in den nächsten Jahren private Anbieter:innen vor allem in Form von Großkonzernen in die medizinische Primärversorgung eindringen und mit Möglichkeiten aus der künstlichen Intelligenz und Telemedizin nach Patient:innen haschen, keineswegs gebannt ist.