Adrenogenitales Syndrom: Frühe Diagnose reduziert Leidensdruck

Das adrenogenitale Syndrom (AGS) ist eine genetische Erkrankung, bei der es durch Enzymdefekte in der Kortisol-Biosynthese zu einem Androgenüberschuss bei gleichzeitiger Nebenniereninsuffizienz (Glukokortikoid- und manchmal auch Mineralokortikoidmangel) kommt.

Genetische Hintergründe

Die häufigste genetische Ursache des AGS sind autosomal rezessiv vererbte Defekte in der Steroid-21-Hydroxylase, die in der Nebenniere die Konversion von 17-Hydroxyprogesteron in 11-Desoxycortisol katalysiert. Heterozygote 21-Hydroxylasedefekte (bei Vorliegen eines gesunden Allels) führen nicht zu AGS, jedoch zur Anlagenträgerschaft. Die Heterozygotenfrequenz in der Allgemeinbevölkerung ist ungefähr 1 : 60. Nur wenn homozygote Defekte in der 21-Hydroxylase vorliegen oder wenn verschiedene Defekte beide Allele betreffen, kommt es zur Krankheitsmanifestation. Patienten mit AGS sollte daher bei Kinderwunsch eine Partnertestung empfohlen werden, weiters sollte Eltern von betroffenen Kindern eine genetische Beratung angeboten werden.
Zur Erkennung von Anlageträgern ist die genetische Testung wichtig, da es diesbezüglich keine zuverlässigen biochemischen Parameter gibt. Eine genetische Analyse ist jedoch auch bei biochemisch gesicherter AGS-Diagnose äußerst relevant, da aufgrund der vorliegenden Mutationen der Schweregrad der Erkrankung eingeschätzt werden kann, sowie um eine vollständige humangenetische Beratung im Hinblick auf Kinderwunsch und Familienplanung durchführen zu können.

Klinisches Bild

Abhängig vom Schweregrad des Funktionsverlustes der 21-Hydroxylase unterscheidet man zwischen klassischem und nichtklassischem AGS. Bei schwerem Funktionsverlust kommt es im Rahmen eines klassischen AGS bei Mädchen bereits in utero zur Virilisierung der äußeren Genitalien sowie zu potenziell lebensbedrohlichen neonatalen Nebennierenkrisen bei beiden Geschlechtern. Mildere Defekte führen zu einem nichtklassischen („late onset“-)AGS, das im Kindes-, Jugend- oder jungen Erwachsenenalter manifestiert oder manchmal gänzlich symptomlos verlaufen kann. Bei Kindern ist das häufigste erste Symptom eines nichtklassischen AGS das Auftreten einer Pubertas praecox. Die häufigsten Symptome bei betroffenen Frauen sind Hirsutismus, Akne, Zyklusstörungen und verminderte Fertilität. Ein unerfüllter Kinderwunsch führt nicht selten zur Diagnose eines nichtklassischen AGS. Auch im nichtklassischen AGS kann eine milde Nebenniereninsuffizienz in schweren Belastungssituationen zu Nebennierenkrisen führen.

 

 

Diagnose

Ein klassisches AGS wird im Normalfall im Rahmen des Neugeborenenscreenings über erhöhte 17-Hydroxyprogesteronspiegel erkannt. Zusätzlich sollte eine diagnostische Abklärung bei Mädchen mit virilisierten Genitalien sowie bei Salzverlustkrisen im Neugeborenenalter eingeleitet werden. Zur Diagnosesicherung ist eine weitere Bestimmung des 17-Hydroxyprogesterons, ein ACTH-Stimulationstest sowie eine genetische Analyse der 21-Hydroxylase empfohlen.
Nichtklassisches AGS wird im Normalfall nicht im Neugeborenenscreening erkannt. Besonders betroffene Frauen haben oft aufgrund von unerfülltem Kinderwunsch oder Hirsutismus einen hohen Leidensdruck. Erhöhte Nüchtern-17-Hydroxyprogesteronspiegel (Blutabnahme in den frühen Morgenstunden) können den klinischen Verdacht erhärten, während der Goldstandard der biochemischen Diagnose ein ACTH-Stimulationstest ist; dieser ist vor allem zur Beurteilung eines Kortisolmangels wichtig. Ergänzend sollte, vor allem im Hinblick auf Kinderwunsch und Familienplanung, eine genetische Bestätigung und Beratung durchgeführt werden.

 

 

Behandlung

Das Behandlungsziel beim AGS ist sowohl die Substitution des Glukokortikoidmangels als auch eine Suppression der Hyperandrogenämie. Bei klassischem AGS ist eine tägliche Substitutionstherapie mittels Hydrocortison (bei Erwachsenen seltener auch Prednisolon oder Dexamethason) zur Behandlung der Nebenniereninsuffizienz und zur Suppression der adrenalen Androgenproduktion erforderlich. Bei körperlicher Belastung (z. B. im Rahmen von Infekten, Unfällen oder bei chirurgischen Eingriffen) kann es zu Nebennierenkrisen kommen. Es ist daher eine Dosissteigerung der Glukokortikoidtherapie erforderlich. Bei Erbrechen oder schwerem Durchfall muss eine intravenöse Gabe erfolgen. Beim Vorliegen eines Mineralokortikoidmangels ist zusätzlich die regelmäßige Einnahme von Fludrocortison notwendig. Virilisierung oder genitale Fehlbildungen bei betroffenen Mädchen können eine chirurgische Therapie erfordern.
Bei nichtklassischem AGS richtet sich die Therapie sehr stark nach dem Ausmaß des Enzymdefekts. Patienten mit asymptomatischem nichtklassischen AGS benötigen oft keine medikamentöse Behandlung. Ein Kortisolmangel muss jedenfalls substituiert werden, während eine symptomatische Hyperandrogenämie je nach Ausmaß und Gesamtsituation mit Glukokortikoiden oder hormonellen Kontrazeptiva mit antiandrogener Aktivität behandelt werden kann.

Zusammenfassend beobachtet man beim AGS klinisch sehr heterogene Krankheitsbilder. Während das klassische AGS eine lebenslange Substitutionstherapie mit Glukokortikoiden erfordert, die sowohl bei zu niedriger Dosierung (Nebennierenkrisen) als auch bei zu hoher Dosierung (iatrogenes Cushing-Syndrom) zu schwerwiegenden Komplikationen führen kann, kommt es beim nichtklassischen AGS mit milder Symptomatik oft zu einer späten Diagnosestellung und entsprechendem Leidensdruck.


KOMMENTAR

Univ.-Prof. Dr. Alexandra Kautzky-Willer
Leiterin der Gender Medicine Unit der Medizinischen Universität Wien und des VAMED Gender Instituts la pura, Gars am Kamp

Das adrenogenitale Syndrom (AGS) kann durch unterschiedliche Ausprägung erhöhter Androgenspiegel und verminderter Kortisol- und Aldosteronspiegel zu verschiedenen phänotypischen Krankheitsbildern führen: Bei schweren Formen zu einem Salzverlustsyndrom und einer intrauterinen Virilisierung weiblicher Genitalien, bei milderen Formen zu Hirsutismus, Zyklusanomalien und Fertilitätsstörungen. Die nichtklassische Form, die nicht im Neugeborenen-Screening erkannt wird, bleibt oft lange unentdeckt, was in vielen Fällen zu einer Beeinträchtigung der Lebensqualität führt. Bei den Betroffenen werden auch häufiger Sexualfunktionsstörungen und eine Genderdysphorie beschrieben. Virilisierende Einflüsse in der Pubertät können zu einer Veränderung sozialer Interaktionen führen und die Entwicklung beeinflussen. Frauen mit nichtklassischer Form und mit Hyperandrogenämie zeigten in einer Untersuchung an der MedUni Wien eine geringere Orgasmusfähigkeit und einen höheren auf die Sexualität bezogenen Stresslevel. Andere Studien haben zusätzlich auch ein höheres Risiko für Depressionen bei der nichtklassischen Form und bei Hyperandrogenämie ergeben. Diese Daten weisen insgesamt auf einen höheren Leidensdruck von Frauen mit AGS und auf die Wichtigkeit einer frühen Diagnose und Behandlung hin.