Ärztedichte: falsche Zahlen

„Das Phänomen Ärzteknappheit ist nicht typisch für Österreich, sondern ein europaweiter Trend. Doch statt zu handeln und Maßnahmen gegen den wachsenden Ärztemangel zu setzen, wird weiter mit falschen Zahlen der OECD argumentiert. Falsche Zahlen dürfen aber keine Grundlage für politische Entscheidungen sein, weil sie zwangsläufig zu einer falschen Politik führen“, warnt Univ.-Prof. Dr. Thomas Szekeres, Präsident der Ärztekammer für Wien.
Österreichische Gesundheitspolitiker, Kassenfunktionäre, Patientenanwälte und diverse Gesundheitsökonomen verweisen gerne auf die letztverfügbaren OECD-Zahlen, wonach Österreich – nach Griechenland – die zweithöchste Ärztedichte Europas habe. In Österreich kämen demnach 5,05 Ärzte auf 1.000 Einwohner. Doch bleibt dabei meist unerwähnt, dass Österreich auch Ärztinnen und Ärzte in Ausbildung miteinberechnet, ganz im Gegensatz zu anderen OECD-Staaten, wie zum Beispiel Belgien.
„Ein problematischer Vergleich“, betont Hon.-Prof. Mag. Dr. Leo W. Chini, Leiter des Forschungsinstitutes für Freie Berufe an der Wirtschaftsuniversität Wien: „Diese Zahlen sind schon deswegen schlicht und einfach falsch, weil die einzelnen Länder so nicht verglichen werden können.“ In Österreich beispielsweise würden Köpfe herangezogen, die auch teilzeitbeschäftigte und eben in Ausbildung befindliche Ärztinnen und Ärzte miteinbeziehen – „die natürlich alle nicht voll versorgungswirksam sind.“
Rechnet man die Turnusärzte heraus und vergleicht die Anzahl der Ärztinnen und Ärzte mit eingetragener Berufsbefugnis zur selbstständigen Berufsausübung, ergibt sich aber ein gänzlich anderes Bild. Demnach kommen in Österreich lediglich 4,32 Ärztinnen und Ärzte auf 1.000 Einwohner, „und plötzlich ist Österreich bei der Ärztedichte nicht mehr auf Platz zwei der europäischen Länder, sondern weit abgeschlagen auf Platz 13. Bei fertig ausgebildeten Ärzten liegen wir eindeutig nur im Mittelfeld“, fasst Chini die Ergebnisse seiner Analyse zusammen (s. Abb. 1). Wenn man dann noch beachtet, dass nicht jeder eingetragene Arzt voll versorgungswirksam ist, da die Anzahl der Teilzeitbeschäftigten in Österreich kontinuierlich steigt, ist die tatsächliche Ärztedichte real noch einmal um eine Stufe niedriger. „Bei einem Blick nach Wien wird das Problem noch deutlicher: Geht man von einem Pensionsantritt mit 67 Jahren aus, gibt es von den derzeit 730 Hausärzten in Wien im Jahr 2030 wegen des fehlenden Nachwuchses nur noch 190 Hausärzte mit einem Kassenvertrag“, erläutert MR Dr. Johannes Steinhart, Vizepräsident und Obmann der Kurie niedergelassene Ärzte der Ärztekammer für Wien sowie der ÖÄK (s. Abb. 2). Bereits im Jahr 2025 kommen auf einen Allgemeinmediziner 3.338 Patienten und auf einen Facharzt 2.914 Patienten.

 

 

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In 14 Jahren fehlen in Wien bis zu 4.000 Ärzte

Chini kommt daher zu dem dramatischen Schluss: „Im Jahr 2030, also in nur 14 Jahren, fehlen uns allein in Wien zwischen 3.000 und 4.000 Ärztinnen und Ärzte. Das müssen die Verantwortlichen in der Politik endlich akzeptieren und daraufreagieren.“

Masterplan Medizinernachwuchs gefordert

Genügend Nachwuchs, um eine fundamentale Versorgungskrise abzufangen, ist nicht in Sicht. Im Studienjahr 2014/2015 gab es an Österreichs Medizinuniversitäten 1.695 Absolventen, darunter 429 ausländische Studierende, und so mit 25 Prozent mehr als doppelt so viele wie zehn Jahre zuvor: 2004/2005 waren es 1730 Absolventen, davon 12 Prozent (214) aus dem Ausland.
„Es ist also klar, dass ein hoher Anteil der Absolventen nicht in Österreich arbeiten wird“, stellt Szekeres fest, „denn auch die inländischen Absolventen wandern aufgrund besserer Arbeitsbedingungen und höherer Gehälter immer öfter ins Ausland ab.“ Das bestätigt auch Chini: „Die Zahl derer, die in Österreich als Arzt arbeiten werden, wird zukünftig wesentlich niedriger sein als 2004, und das bei einer seither um fast eine halben Million Menschen gewachsenen Bevölkerung.“
Doch trotz dieser Entwicklung bleibt Österreich ein Exportland von Medizinern: 3.000 in Österreich ausgebildete Ärztinnen und Ärzte arbeiten bereits in Deutschland und der Schweiz (siehe Tab.). „In anderen Ländern wirbt man erfolgreich österreichische Mediziner ab, während hierzulande gebetsmühlenartig von einer der größten Ärztedichten Europas gesprochen wird“, unterstreicht Szekeres, der deshalb fordert: „Wir brauchen einen Masterplan für Jungmediziner, um den dringend benötigten Nachwuchs im Land zu halten.“
Vor allem bräuchte es mehr Anreize, um die Absolventenabwanderung ins Ausland zu verringern, denn auch in vielen Spitälern sei die Postenbesetzung mittlerweile alles andere als einfach. Szekeres: „Das beginnt bei den Ausbildungsmöglichkeiten und geht bei den Arbeitsbedingungen weiter. Auch die Jungen müssen wieder 100 Prozent Arzt sein dürfen.“

 

Primärversorgung 2020: gesundes Arbeiten als Arzt ermöglichen

Dass Veränderungen im niedergelassenen Bereich notwendig sind, um die Belastungen für Ärztinnen und Ärzte zu senken und ebenso den Beruf für junge Kollegen zu attraktiveren, ist auch für Steinhart unumstritten: „Die Ärztekammer hält an ihrem Konzept „Primärversorgung 2020“ fest und steht auch zu ihrem Wort, sich für die Etablierung weiterer, auch fächerübergreifender Pilotprojekte einzusetzen. Die Konzepte zur erweiterten Einzelordination, der erweiterten Gruppenpraxis bis hin zur vernetzten Versorgungseinheit (PHC) liegen hierfür bereits auf dem Verhandlungstisch und sind auch für die fachärztliche Versorgung anwendbar.“
Die Gesundheitspolitik dürfe auch die immer wichtiger werdende Rolle von Wahlärzten nicht übersehen. Ohne sie würde der niedergelassene Versorgungsbereich schon jetzt nicht mehr funktionieren. Ihre Arbeit ist für die Versorgung existenz-wichtig.
Steinhart: „Um weiter 100 Prozent im Beruf geben zu können, braucht die Ärzteschaft neben dem passenden Umfeld auch die richtigen Bedingungen. Dazu gehört die Streichung von zeitraubenden bürokratischen Auflagen genauso wie ein Ende der Deckelungen und Degressionen im niedergelassenen Bereich. Zumutungen wie „Mystery Shopping“, bei dem Kassenspitzel Ärzte zu einem Fehlverhalten provozieren sollen, das ihnen dann zum Vorwurf gemacht werden kann, müssen ebenfalls abgeschafft werden.“

Wienweite Kampagne: 100% Arzt

Die Wiener Ärztekammer startete vor Kurzem eine wienweite Kampagne, um die Wertschätzung für die Ärzteschaft, die seitens der Gesundheitspolitik immer öfter fehlt, aufzuzeigen und gleichzeitig eine Antwort auf die dringende Frage zu geben: Was braucht es, um auch in Zukunft zu 100 Prozent Arzt sein zu können?
Steinhart: „Wiens Ärzte leben ihren Beruf mit Leidenschaft und geben dafür 100 Prozent. Doch auch der leidenschaftlichste Arzt braucht dafür das passende Umfeld und die richtigen Bedingungen. Dass diese immer schwieriger werden, davon kann sich die Mehrheit der Bürger, die gerade einen Termin in einem Spital oder in einer Kassenordination benötigen, fast täglich überzeugen.“