Antikoagulation erfordert Nutzen-Risiko-Abwägung bei jedem Patientenkontakt

Entsprechend den derzeitigen Empfehlungen sollte jede:r > 75-Jährige mit Vorhofflimmern, auch wenn sie/er sonst keine Risikofaktoren aufweist, mit oralen Antikoagulanzien (OAK) behandelt werden, um das Risiko embolischer Ereignisse zu senken. Fortgeschrittenes Alter ist aber auch der wichtigste Risikofaktor für das Auftreten von Blutungskomplikationen unter OAK. Effizienz und Sicherheit der OAK zur Embolieprophylaxe bei Vorhofflimmern wurden mittels randomisierter Studien nachgewiesen, allerdings waren ältere Patient:innen in diesen Studien unterrepräsentiert (Tab.). Dies betrifft sowohl Studien mit Vitamin-K-Antagonisten (VKA) als auch mit nicht-Vitamin-K-antagonistischen oralen Antikoagulanzien (NOAK). Nur die BAFTA-Studie hat sich auf > 75-Jährige konzentriert.

Die Entscheidung über Pro und Kontra von OAK bei betagten Patient:innen hängt von den Ergebnissen retrospektiver Analysen und Registerdaten ab. Im Folgenden soll ein Überblick gegeben werden, welche Befunde bei der Entscheidungsfindung und Risiko-stratifizierung hinsichtlich OAK bei Betagten hilfreich sein können.

Niereninsuffizienz

Eine eingeschränkte Nierenfunktion (Kreatinin-Clearance < 30 ml/min) wurde in mehreren Studien als Risikofaktor für Blutungskomplikationen unter OAK identifiziert. Besonders zu beachten ist die Nierenfunktion bei Patient:innen, die mit NOAK antikoaguliert werden, da alle NOAK renal eliminiert werden. Infolge einer akuten Verschlechterung des Gesundheitszustandes (z. B. Dehydrierung im Rahmen von Infekten oder Diarrhöen) kann es bei betagten Patient:innen oft schnell zur Entwicklung oder Aggravierung einer Niereninsuffizienz kommen. Wenn sich die Nierenfunktion verschlechtert, ist eine Dosisreduktion oder Pausieren der NOAK erforderlich, um Blutungen infolge einer Kumulation von NOAK vorzubeugen.

Anämie

Eine Anämie, auch wenn sie nur geringgradig ist (Hämoglobin < 12,3 g/dl), wurde als Risikofaktor für Blutungen unter OAK bei Betagten identifiziert. Da Anämie ein Hinweis auf eine bisher nicht bekannte gastrointestinale Blutungsquelle, eine Infektion oder ein Malignom darstellen kann, empfiehlt es sich, vor Einleitung einer OAK die Ursache der Anämie abzuklären.

Polymedikation

Polymedikation ist ein Risikofaktor für Blutungen infolge von Medikamenteninteraktionen. Pharmakodynamische Interaktionen von OAK gibt es mit Substanzen, welche die Thrombozytenfunktion beeinflussen und damit die Blutungsneigung erhöhen, wie zum Beispiel Thrombozytenaggregationshemmer, nichtsteroidale Antirheumatika und verschiedene Antidepressiva. Pharmakokinetische Interaktionen treten auf, wenn zugleich Substanzen eingenommen werden, die den Metabolismus von OAK verändern. Medikamenteninteraktionen finden sowohl mit VKA als auch mit NOAK statt. Einfacher sind Medikamenteninteraktionen während einer Therapie mit VKA zu erkennen, weil sich der INR-Wert verändert, als unter einer Therapie mit NOAK, bei der keine Laborkontrollen stattfinden und erst ein Blutungsereignis den Hinweis auf eine Medikamenteninteraktion liefert. Vor Einleitung einer OAK und während der Therapie sollte immer wieder die Komedikation und ihre Notwendigkeit kritisch überprüft werden.

Gebrechlichkeit (Frailty)

In den Empfehlungen der Europäischen Gesellschaft für Herzrhythmusstörungen aus 2021 findet sich die Feststellung: „[T]here may be no benefit to oral anticoagulant therapy in states of severe frailty or where life expectancy is likely to be limited.“ Eine epidemiologische Studie zeigte, dass Gebrechlichkeit bei bis zu 80 % der älteren Patient:innen mit Vorhofflimmern vorliegt und dass das Ausmaß der Gebrechlichkeit mit der Mortalitäts- und Blutungsrate assoziiert ist. Bei der Beurteilung der Gebrechlichkeit gibt es allerdings methodische Probleme: Es existieren viele Scores und Skalen, aber keine allgemein akzeptierte Definition von „Gebrechlichkeit“ und wie sie zu messen ist. Angesichts dieser Probleme bleibt für den Einzelfall nur eine personalisierte Entscheidung über die OAK und das sorgfältige Beobachten der gesundheitlichen Entwicklung der Patient:innen über die Jahre.

Informierte Entscheidungsfindung

Da es sich bei der OAK betagter Patient:innen zumeist um eine langfristige oder Dauertherapie handelt, ist eine informierte Entscheidungsfindung („informed decision-making“) wichtig. Es gibt Hinweise, dass von Kardiolog:innen in den USA Nutzen und Risiko der OAK nicht ausgewogen dargestellt werden, sondern die Gefahr thromboembolischer Ereignisse übertrieben und Bedenken hinsichtlich der Blutungsgefahr abgeschwächt werden. Demgegenüber ist festzuhalten, dass Nutzen und Risiko der OAK bei jedem Patientenkontakt aufs Neue zu beurteilen und ausgewogen mit dem Patienten/der Patientin zu diskutieren sind, ebenso wie die Vor- und Nachteile einer OAK-Therapie mit VKA versus NOAK.