Auffrischungsimpfungen – eine Frage der Organisation

Wie beurteilen Sie die Situation der Auffrischungsimpfungen allgemein und speziell im vergangenen Jahr?

Prim. Univ.-Prof. Dr. Wolfgang Popp: Die Empfehlung der WHO lautet, dass jeder Arztkontakt dafür genutzt werden sollte, den Impfstatus zu überprüfen. Da sich der Arzt in der Praxis jedoch in erster Linie dem aktuellen medizinischen Problem widmet, aufgrund dessen der Patient ihn aufsucht, bleibt für den Check des Impfpasses kaum Zeit. Aus meiner Sicht wäre es daher am besten, diese Aufgabe an die Ordinationshilfe auszulagern und routinemäßig in die Anmeldung zu integrieren. Dadurch könnten etwaige Impflücken noch vor dem eigentlichen Arztkontakt detektiert werden, und im Arztgespräch kann gleich darauf eingegangen werden. Bringt der Patient den Impfpass genauso selbstverständlich zum Arztbesuch mit wie die e-Card, kann eigentlich keine Auffrischung entgehen. Das wäre ein einfaches System, um der aktuell vorherrschenden Nachlässigkeit sowohl von Seiten der Patienten als auch des Gesundheitspersonals zu entgegnen. Angesichts des Personalmangels ist die Pandemie sicher nicht die einfachste Zeit, um Impfungen nachzuholen. Andererseits bietet sie aber auch Chancen – zum Beispiel indem man bei der COVID-Impfung gleich den Impfpass kontrolliert und fehlende Impfungen plant.

Welcher Impfabstand soll dabei zur COVID-19-Impfung eingehalten werden?

Prinzipiell gibt es keine Impfintervalle, die vor oder nach einer Impfung gegen COVID-19 einzuhalten sind. Wenn in den Empfehlungen steht, es sollen zwei Wochen vor und nach der Impfung keine anderen Impfungen durchgeführt werden, so geht es hierbei ausschließlich darum, etwaige Nebenwirkungen der jeweiligen Immunisierung zuordnen zu können. Wichtige Impfungen – wie etwa eine Tetanus-Auffrischung nach Verletzung – können und sollen unabhängig vom Zeitpunkt der COVID-Impfung durchgeführt werden. Bei allem, was wir tun, sollten wir den Nutzen gegen einen potenziellen Schaden abwägen. Wenn der Nutzen ein Vielfaches ist, dann kann man ein kleines Risiko akzeptieren. Dies gilt im Übrigen auch für die aktuell gemeldeten Nebenwirkungen der COVID-19-Impfstoffe.

Gilt diese Empfehlung zum Impfabstand in gleicher Weise für Lebend- wie für Totimpfstoffe?

Ja, denn generell können beliebig viele Totimpfstoffe gleichzeitig und auch gemeinsam mit einem Lebendimpfstoff verabreicht werden. Bei der Kombination von mehreren Lebendimpfstoffen gilt die allgemeine Empfehlung, diese entweder gleichzeitig durchzuführen oder im Intervall von 4 Wochen. Bei keiner der aktuell zugelassenen COVID-Impfungen handelt es sich jedoch um einen Lebendimpfstoff.

Welche sind die besten Anlaufstellen, um versäumte Impfungen nachzuholen?

Natürlich ist hier der Hausarzt die erste Anlaufstelle. Ich denke aber, dass sehr wohl auch in den Fachrichtungen die Chance besteht, über die organrelevanten Impfungen und darüber hinaus zu informieren; egal, ob das jetzt der Pneumologe, der Kardiologe, der Nephrologe, der HNO-Arzt, der Pädiater oder der Gynäkologe ist. Es sollte außerdem nicht nur der individuelle, sondern auch der familiäre Schutz besprochen werden. Ein gutes Beispiel hierfür ist das sogenannte Prepare for Pregnancy, bei dem der Impfstatus enger Familienmitglieder abgefragt und gegebenenfalls vervollständigt wird.

Welche Rolle spielen aus Ihrer Sicht die Apotheker beim Schließen der Impflücken?

Ich wäre schon glücklich, wenn ein Patient, der in eine Apotheke geht und dort nach einem Impfstoff fragt, diesen dann auch gleich und ohne Rezept mitnehmen könnte. Und wenn der Apotheker auch noch eine Überprüfung des Impfpasses vornehmen und den Kunden auf fehlende Impfungen hinweisen kann, dann umso besser. Den Stich selbst soll jedoch weiterhin der Arzt vornehmen.

In aller Kürze: Was sind die wichtigsten Argumente für die Auffrischungsimpfungen im Erwachsenenalter?

Das beste Argument, um seine Patienten vom Impfen zu überzeugen, lautet: „Ich bin auch geimpft!“
Das konnte ich selbst sehr gut zu Zeiten der Schweinegrippe beobachten. Damals haben mich viele verunsicherte Patienten angerufen, mit der Frage, ob sie sich impfen lassen sollen. Als ich ihnen erzählt habe, dass sowohl ich als auch meine Familie geimpft sind, erhielt ich zur Antwort: „Herr Doktor, wenn Sie geimpft sind, lasse ich mich auch impfen.“ Dass wir mit gutem Beispiel vorangehen, ist nicht nur bei COVID-19 wichtig. Nur um einige Beispiele zu nennen: Mit der vollständigen Pneumokokkenimpfung bei Über-50-Jährigen lassen sich Pneumonien um circa 60 Prozent reduzieren. Die Pertussisimpfung schützt nicht nur einen selbst, sondern auch Kleinkinder im Umfeld vor einem schweren Verlauf und möglichen Komplikationen. Weltweit sterben rund 355.000 Kinder an Keuchhusten – und das nicht nur in Entwicklungsländern. Ähnliches gilt für Masern: Die MMR-Impfung sollte daher, falls nicht in der Jugend erfolgt, bis zu einem Alter von 45 Jahren nachgeholt werden. Eine Impfung gegen Varizellen reduziert das Risiko für den unangenehmen Herpes Zoster und die noch unangenehmere Zosterneuralgie. Und auch HPV ist ein wichtiges Thema für Jugendliche und junge Erwachsene. Die Impfung ist eine sinnvolle Prophylaxe für Zervix-, aber auch Penis- und Perianalkarzinome. Da ist es in jedem Fall sinnvoll, nicht nur die Mädchen, sondern auch die Buben zu impfen. Und natürlich Influenza.

Spannend zu beobachten war, dass die Influenza-Saison heuer ausblieb – es gab lediglich sporadische Fälle.

Das liegt wahrscheinlich weniger an den Impfungen, sondern in erster Linie an den Hygiene- und Kontaktmaßnahmen im Rahmen der Pandemiebekämpfung, insbesondere an den Schulschließungen. Wir wissen, dass die Schulkontakte dazu führen, dass das Influenzavirus zu den älteren Personen getragen wird, die dann mitunter daran versterben. In einer Studie aus Japan wurde hierzu berechnet, dass mit 400 geimpften Kindern ein Influenza-Todesfall bei älteren Personen verhindert werden kann. Kinder werden in Österreich aber leider nur sporadisch gegen Influenza geimpft. Im Gegensatz zur FSME – gegen die etwa 80 Prozent geimpft sind – wird die Influenza von der Bevölkerung als nicht so gefährlich eingeschätzt und das, obwohl die Übersterblichkeit durch die Grippewelle jedes Jahr bei etwa 2.000 bis 4.000 liegt und Influenza damit weit mehr Todesfälle verursacht als FSME. Insgesamt war die Influenza-Impfrate mit weniger als 10 Prozent in Österreich immer sehr schlecht. Durch die Gratis-Impfaktion im vergangenen Jahr konnte sie etwas erhöht werden. Der Nachteil dieser Aktion war jedoch, dass jene, die sich sonst immer impfen ließen und zu den Risikopersonen gehören, zum Teil keinen Impfstoff mehr erhalten haben, weil dieser an andere Personen verimpft worden war. Hier war gut gemeint leider das Gegenteil von gut gemacht.

Vielen Dank für das Gespräch!