Beziehung eröffnet Perspektiven

Fast die Hälfte der Menschen, die durch Suizid sterben, hatte im Monat vor ihrem Suizid Kontakt mit einem/einer Hausärzt:in. Ein großer Teil der Suizident:innen kommuniziert die Suizidgedanken vor der Durchführung des Suizids an andere Personen. Gegenüber Ärzt:innen und anderen Gesundheitsfachkräften werden Suizidgedanken von einem Drittel der Suizident:innen vor dem Suizid geäußert.

Das aktive Erfragen von Suizidgedanken bei Patient:innen mit psychischen Belastungen, chronischen Leidenszuständen wie Schmerzen u. ä. ist wichtig, da ein beträchtlicher Teil der Patient:innen seine Suizidgedanken nicht von sich aus anspricht, aber über die Nachfrage und die Möglichkeit, über Suizidwünsche zu sprechen, eine Entlastung erlebt. Suizidpräventive Schulungen für sogenannte Gatekeeper wie Ärzt:innen im Rahmen von Suizidpräventionsprogrammen werden als wichtiger Faktor für die Erfolge in der Reduktion von Suiziden in den letzten 2 Jahrzehnten angesehen.

Motive hinter Suizidwünschen verstehen

Suizidale Krisen können als Reaktion auf ein Erleben von Kränkung, Verlusten, Einsamkeit, Verzweiflung und Ausweglosigkeit sowie im Rahmen einer psychischen Erkrankung, z. B. einer Depression, entstehen. Der Ablauf des Errichtens einer Sterbeverfügung und die Durchführung eines assistierten Suizids unterscheiden sich von einem „herkömmlichen“ Suizid, die Motivation zum Suizid unterscheidet sich jedoch nicht zwangsläufig.

Suizidgedanken sind ein Ausdruck seelischer Not sowie psychischen Leidens und erfüllen in der Regel auch eine psychische Funktion. Diese kann beispielsweise in der Vorstellung bestehen, durch den Suizid subjektiv Kontrolle und Handlungsfähigkeit in einer als ausweglos empfundenen Situation wiederzuerlangen, auch wenn dies zunächst paradox klingen mag.

Auch der Wunsch nach einem assistierten Suizid ist als Ausdruck seelischer Not zu sehen, und auch er erfüllt in der Regel eine psychische Funktion. Beispielsweise kann die Vorstellung von assistiertem Suizid für Patient:innen bedeuten, einem aktuellen oder erwarteten Leiden zu entkommen. Oft werden Ängste vor Schmerzen, Luftnot oder anderen Symptomen geäußert bzw. Ängste, mit diesen Symptomen alleingelassen zu werden. Auch Ängste davor, anderen zur Last zu fallen, werden als Beweggründe für den Wunsch nach einem assistierten Suizid genannt. Bei schwer körperlich Kranken mit stark begrenzter Lebenserwartung sind Ängste vor dem Sterbeprozess und einem Verlust der Würde häufige Motive für den Wunsch nach einem assistierten Suizid.

Umgang mit Suizidwünschen

Grundsätzlich muss bei Patient:innen mit Suizidwünschen immer abgeklärt werden, ob eine psychische Erkrankung zugrunde liegt, auch wenn ein Suizid nach dem Sterbeverfügungsgesetz gewünscht wird. Gerade bei körperlich erkrankten und älteren Menschen wird eine Depression häufig übersehen, und Symptome wie Niedergeschlagenheit, Freudlosigkeit und Lebensmüdigkeit werden eher als verständliche Reaktion auf ein chronisches Leiden eingeordnet. Darum ist es entscheidend, eine depressive Erkrankung, die dahinterstecken könnte, zu erkennen, da diese in den meisten Fällen gut behandelbar ist.

Eine akute psychische Erkrankung führt in der Regel dazu, dass eine freie und unbeeinflusste Entscheidung aufgrund von Einengung und der affektiven Lage des/der Patient:in nicht getroffen werden kann, weshalb eine fachlich kompetente Begutachtung des psychischen Zustandsbildes notwendig ist und vom Gesetz auch verlangt wird.

Krisenintervention und Alternativen zum Suizid

Grundlage für den Umgang mit Patient:innen mit Suizidwünschen ist ein tragfähiges Beziehungsangebot. Sowohl bei der Beratung bzgl. eines assistierten Suizids als auch generell im Umgang mit Patient:innen mit Suizidwünschen ist es wichtig, dass Alternativen zum Suizid sichtbar werden. Alternativen können bspw. Maßnahmen der Krisenintervention und psychiatrischen/psychotherapeutischen Behandlung darstellen.

Im Rahmen der Krisenintervention wird versucht, die subjektive Not des/der Patient:in und die Auslöser der Suizidgedanken zu verstehen. Ausgehend von einem Verständnis der jetzigen Krisensituation und der im Vordergrund stehenden Affekte wie Angst oder Wut werden Maßnahmen der Entspannung (nichtmedikamentös und eventuell medikamentös) und Strategien zur Entlastung/Lösung erarbeitet. Gegebenenfalls sollten Angehörige und andere Hilfesysteme miteinbezogen werden bzw. der/die Patient:in anderen Einrichtungen zugewiesen werden. Ziel der Krisenintervention ist, dass Patient:innen Unterstützung bekommen, wieder handlungsfähig werden und einen Ausweg aus einer als ausweglos erlebten Situation finden können.

Neben den psychiatrisch-psychotherapeutischen Behandlungsmöglichkeiten stellt bei Wünschen nach einem assistierten Suizid die palliativmedizinische Behandlung eine wichtige Alternative zum Suizid dar. Die Kompetenzen der Palliativmedizin liegen in der multiprofessionellen Begleitung von schwer kranken, mit existenziellen Nöten konfrontierten Patient:innen und deren Angehörigen. Die Beratung zu palliativmedizinischen Behandlungsmöglichkeiten bspw. von oft gefürchteten Symptomen wie Luftnot und Schmerzen und zu Entlastungsmöglichkeiten für Patient:innen und Angehörige können einen alternativen Weg anstelle des assistierten Suizids aufzeigen.

Praxismemo

  1. Aktives Nachfragen nach Suizidgedanken durch Ärzt:innen kann lebensrettend sein.
  2. Hinter Suizid- oder assistierten Suizidwünschen stecken oft therapierbare psychische Erkrankungen.
  3. Tragfähige therapeutische Beziehungen eröffnen Alternativen und unterstützen die Handlungsfähigkeit.