Bipolare Störungen: großes Spektrum an Verläufen

Eine weitere Besonderheit, die sehr charakteristisch für bipolare Verlaufe ist, ist der rasche Wechsel bzw. das häufige Auftreten von Episoden innerhalb eines Jahres. Bei mehr als 3 Episoden pro Jahr (egal welche) spricht man von „rapid cycling“, das eine Unterform der bipolaren Störung darstellt und in deren Verlauf auftreten kann.
Charakteristikum der bipolaren Störung sind nicht die einzelnen Symptome, sondern vielmehr die Verlaufsgestalt bei der jeweils einzelnen Person: Wir unterscheiden ein klinisches Spektrum an Krankheitsverläufen, von bipolar I bis VI (nach Akiskal, siehe Spalte rechts).
Leider haben diese Untergruppierungen in der ICD-10-Diagnostik keinen Niederschlag gefunden, sie sind aber klinisch-diagnostisch hilfreich.

Begriffe und Diagnostik

Klassische Depression: drei mögliche Hauptsymptome – Veränderung der Stimmungslage, Interessenverlust/Lustlosigkeit sowie Veränderung von Antrieb oder gesteigerter Ermüdbarkeit – sowie eine Reihe von Zusatzsymptomen. Lebensüberdruss und Suizidalität müssen immer abgefragt werden. Konzentrationsstörungen und verminderte Leistungsfähigkeit werden oft beklagt. So können z. B. Einschlafstörungen auftreten, aber auch sehr oft Durchschlafstörungen mit frühzeitigem Erwachen.
Bei manischen Menschen kann ebenfalls eine Schlafverkürzung auftreten, sie sind jedoch trotz weniger Stunden Schlaf – mitunter nur 2 bis 4 Stunden – völlig fit und erleben keine Tagesmüdigkeit.
Gemischte Episoden: Gleichzeitiges Auftreten von mehreren manischen wie auch depressiven Symptomen.
Atypische Depression: Bei der Depression darf die so genannte „atypische Depression“, die relativ häufig bei bipolaren Verläufen vorkommt, nicht übersehen werden.
Diese geht einher mit:

  • einem enormen Schlafbedürfnis von 12 bis 15 Stunden (Hypersomnie),
  • Heißhungerattacken (Hyperphagie),
  • bleiartigem Schweregefühl in den Beinen und
  • gesteigerter Empfindlichkeit gegenüber Kritik und sozialer Zurückweisung

Herausforderungen in der Diagnostik

Die größte Problematik der Diagnostik stellt seit Langem das Faktum dar, dass die hypomanen und manischen Episoden nicht befragt (Arzt:Ärztin, Therapeut:in) bzw. nicht erwähnt (Patient:in) werden und somit meist nur die Depression erkannt und kurzfristig behandelt wird.
Differenzialdiagnostisch sind ADHS im Erwachsenenalter und vor allem Borderline-Persönlichkeitsstörungen bei gemischten Episoden und „rapid cycling“ zu bedenken, wobei Überlappungen nicht selten sind. Falls zusätzlich schizophrene Symptome auftreten, ist die Diagnose schizoaffektive Störung in Erwägung zu ziehen. Wenn die psychotischen Symptome in Zusammenhang mit der Stimmung und den Episoden stehen, dann ist von bipolar mit psychotischen Zeichen zu sprechen.

Medikamentöse Behandlung

Lithiumsalz: Seit über 70 Jahren steht das Lithiumsalz trotz vieler Kritik uneingeschränkt als Mittel der Wahl zur Verfügung. Es ist vor allem bei den klassischen Verläufen mit freiem Intervall – und wenn Suizidalität, Suizidversuche des:der Betroffenen oder auch in der Familie eine Rolle spielen – zu empfehlen. Spiegel von 0,6–0,8 mmol/l sind ausreichend für eine den Rückfall verhütende Wirkung. Bei Vorherrschen von Manien kann höher dosiert werden, bei älteren Menschen wird man vorsichtiger dosieren und die Dosis anpassen.
Antiepileptika: Valproinsäure, Carbamazepin und Lamotrigin haben einen fixen Stellenwert in der Behandlung zur Rückfallverhütung der bipolaren Störung. Heutzutage wird bevorzugt Lamotrigin gegeben, weil es auch Frauen im gebärfähigen Alter nehmen können.
Atypische Antipsychotika: Diese Medikamentengruppe ist in den letzten beiden Jahrzehnten dazugekommen. Beginnend mit der Akutbehandlung der Manie (Olanzapin, Ziprasidon, Risperidon, Aripiprazol und Quetiapin) wurden sie erfolgreich in der Verlängerung bis zu einem Wiederauftreten einer Episode verabreicht. Lediglich Quetiapin ist auch für die Rückfallverhütung depressiver Episoden zugelassen.
Antidepressiva: Bei der Behandlung von Depressionen im Verlauf bipolarer Störungen sollte sparsamer und vorsichtiger mit Antidepressiva umgegangen werden. Einige Antidepressiva zeigen ein so genanntes „Switch-Risiko“, das heißt, dass die Behandlung mit diesem Antidepressivum zur Auslösung einer hypomanen oder manischen Phase führen kann. Ob das von den Medikamenten oder vom Risiko der einzelnen Person abhängt, konnte bislang nicht geklärt werden. Neuere Substanzen wurden dahingehend bereits geprüft und zeigen kein erhöhtes Switch-Risiko (Agomelatin, Vortioxetin, Lurasidon).
In jedem Fall sollte sofort zusätzlich zu einer antidepressiven Medikation ein Stimmungsstabilisierer verabreicht werden.

Multimodales Therapiepaket

Insgesamt braucht es für die Behandlung der bipolaren Störungen ein breites Therapiepaket, bei dem nicht nur Medikation, sondern auch Psychoedukation, Veränderung der Lebensgewohnheiten, regelmäßige Bewegung und Entspannungsübungen, die Einbindung der Angehörigen oder Partner:innen in den therapeutischen Prozess einen Stellenwert haben. Das Arbeiten an der Akzeptanz wird nicht nur in Psychotherapien, sondern auch in Selbsthilfegruppen oftmals erfolgreich erreicht.

Praxismemo

  1. Bei der Medikation gilt: ausreichend hoch, ausreichend lange, nicht ständig wechseln.
  2. Patient:innen bei Akzeptanz der Erkrankung, Adhärenz und Erkennen von Frühwarnzeichen unterstützen.
  3. In die Therapie immer wieder die Langzeitperspektive einfließen lassen!