Chronisch krank – chronisch vergessen?

Ohne Zweifel bestimmt die aktuelle Entwicklung rund um COVID-19 die gesundheitspolitische Debatte. „Ich war vor dem Sommer der Meinung, wir könnten die Pandemie erfolgreich bekämpfen und schließlich auch beenden. Stattdessen sind wir mit einer derzeitigen Durchimpfungsrate von 63 % die Letzten in Westeuropa und die Ersten in Osteuropa. Die Inzidenzen in Österreich sind ein Horror. Die Intensivstationen füllen sich. Die Triage kommt an den Tag. Wir setzen das Gesundheitswesen unter Druck. Und neben dieser COVID-Pandemie gibt es in Österreich 2,8 Millionen Menschen, die chronisch krank sind und lebenslang eine Therapie und medizinische Begleitung benötigen“, sagte der Leiter des Gesundheitspolitischen Forums, Dr. Jan Oliver Huber, in seinem Eingangsstatement.
Die Menschen in anderen Ländern hätten im Vergleich zur Gesellschaft in Österreich offenbar rationaler und erfolgreicher auf COVID-19 reagiert. Huber: „Die Durchimpfungsrate in Portugal liegt generell bei 85 %, bei den 50- bis über 80-Jährigen beträgt die Durchimpfungsrate sogar rund 100 %. Die Portugiesen wissen, dass ihr Gesundheitswesen nicht so gut ist wie das in Österreich. Die wollen nicht in ein Krankenhaus.“
Keine Frage: Das in Österreich durchaus mangelhafte Management der akuten Krise durch die COVID-19-Pandemie, das durch erhebliche Widerstände gegen die Impfung bei einem Teil der Bevölkerung noch erschwert wird, stellt eine zusätzliche Belastung dar. Während Medizin und Gesundheitspolitik fieberhaft nach einem Ausweg suchen, können Versorgung und Betreuung von Menschen mit langwierigen bis chronischen Erkrankungen leicht unter „Kollateralschäden“ leiden.

Chronische Erkrankungen als Massenphänomen

Während in einem hoch technisierten und mit großen finanziellen Mitteln ausgestatteten österreichischen Gesundheitswesen oft überproportional auf Diagnose und Therapie schwerer akuter Erkrankungen fokussiert wird, tut sich das System mit chronischen Erkrankungen offenbar schwerer. Oft wird allein schon der betroffene Personenkreis drastisch unterschätzt.
Dr. Bernhard Rupp, Leiter der Abteilung für Gesundheitspolitik der Arbeiterkammer Niederösterreich, sagt dazu: „Nach den aktuellen Daten haben rund 2,8 Millionen Menschen in Österreich eine chronische Erkrankung. Das heißt bei 4,3 Millionen unselbstständig Beschäftigten, dass rund die Hälfte der Personen im erwerbsfähigen Alter mit einer chronischen Erkrankung konfrontiert ist. Es geht nicht um ‚drei Blinde und vier Rollstuhlfahrer‘ – also nur um den Verbesserungsbedarf für relativ wenige Personen –, es geht um eine umfassende Systemanpassung für einen erheblichen Teil der Bevölkerung, um diesem die Teilhabe am Gesellschafts- und Erwerbsleben zu ermöglichen.“

Keine Reha-Angebote für Kinder und Jugendliche

Was notwendig sei: Eine für die Betroffenen über jedes Lebensalter hinweg adäquate Versorgung und Betreuung, die auch Einstieg, Verbleib und eventuelle Wiedereingliederung in das Erwerbsleben gewährleiste. So hätte es viele Jahre lang keine entsprechenden Einrichtungen für die Rehabilitation von Kindern und Jugendlichen gegeben. Die Reha-Angebote hätten sich ausschließlich an Erwachsene gerichtet. Nach langen Bemühungen hätte sich das nun geändert.
Trotzdem existieren Defizite, die auch schon Menschen im jungen Erwachsenenalter schaden können. Rupp: „Nimmt man chronische Erkrankungen wie Psoriasis oder Multiple Sklerose als Beispiel, so erfolgt die Erstdiagnose oft im jugendlichen Alter, also in einer kritischen Lebensphase.“ In dieser Phase geht es darum, „Lebensentscheidungen“ zu treffen, die Lebensplanung vorzunehmen und die Frage zu klären, welche Ausbildung absolviert werden soll. Hier müssten alle notwendigen Hilfen geboten werden, um Betroffenen bestmögliche Chancen zu ermöglichen.
Es gebe weitere Mängel, so Rupp: „Beispielsweise fehlen in Österreich ‚chronisch‘ 500 Arbeitsmediziner als Vollzeitäquivalente.“ Aus dem seit Jahren erfolgreichen Programm „Fit-to-Work“ höre man vonseiten des Verbandes der Psychologinnen und Psychologen, dass bisher vorhandene Therapieangebote vom Sozialministerium gestrichen werden sollen. Dabei müsse man mit Long-COVID gerade auf diesem Gebiet in der nächsten Zukunft mit noch mehr Bedarf rechnen.

Von guter Versorgung abhängig

In Österreich fehlen, was viele chronische Erkrankungen angeht, schon allein die Basisdaten für eine entsprechende Versorgungsplanung. „Wie viele Betroffene wir haben, dazu gibt es keine Zahlen. Wir schätzen die Zahl im mittleren fünfstelligen Bereich. Der Verlauf kann von mild bis schwer sein. Eine Aussage, welchen Verlauf die Erkrankung nimmt, kann nicht getroffen werden“, sagte Ing. Evelyn Groß, Präsidentin der Österreichischen Morbus-Crohn-/Colitis-ulcerosa- Vereinigung (ÖMCCV).Die seit vielen Jahren in der Selbsthilfe engagierte Aktivistin ist selbst seit mehr als drei Jahrzehnten Morbus-Crohn-Patientin. „Entscheidend ist, wie gut die Versorgung ist“, sagte sie. Bei chronisch entzündlichen Darmerkrankungen mit belastenden Symptomen im Krankheitsschub und einem Auf und Ab im langfristigen Verlauf sei eben das gesamte Leben davon abhängig, wie sehr die Krankheit unter Kontrolle gebracht und gemanagt werden könne.
„Wir sind zwar Patienten, aber wir haben auch noch ein ‚anderes‘ Leben. Es gibt eine sehr gute medizinische Versorgung, man muss nur den Zugang dazu finden“, erklärte die ÖMCCV-Präsidentin.
Es gehe um ausreichende Kapazitäten für eine ständige spezialisierte Versorgung von Menschen mit chronisch entzündlichen Darmerkrankungen, so Evelyn Groß. „Ich gehe nicht mit einem Medikament nach Hause und komme in drei Jahren wieder. Ich brauche eine Kontrolle alle drei bis sechs Monate.“ Ausreichend Spezialisten aufseiten der Ärzte und speziell ausgebildete CED-Nurses müssten vorhanden sein, um die Betroffenen so zu versorgen, dass sie ein qualitätsvolles Leben führen könnten.
Ohne Zweifel hat die COVID-19-Pandemie auch Auswirkungen auf die Qualität der Versorgung der CED-Patienten gehabt. Dies, so Evelyn Groß, beweise auch eine aktuelle Umfrage von 564 Betroffenen: Vier von zehn klagten über eine Verschlechterung der psychischen Lebensqualität, ein Fünftel über eine höhere Krankheitsaktivität und mehr als ein Viertel über Probleme, Ärzte zu erreichen oder Kontrolltermine wahrzunehmen. 14 Prozent setzten ihre Therapie ab, veränderten sie oder pausierten – ein Drittel davon ohne ärztliche Rücksprache.

Gefahr durch eine nicht evidenzbasierte Behandlung

„Die Zunahme der chronisch entzündlichen Darmerkrankungen zeigt, dass offenbar Umweltfaktoren damit in Zusammenhang stehen. Colitis ulcerosa und Morbus Crohn sind Erkrankungen, die oft schon in der Adoleszenz auftreten und die Patienten ein Leben lang begleiten und belasten. Morbus Crohn ist eine destruierende Erkrankung. Er hört nie auf“, sagte Univ.-Prof. Dr. Walter Reinisch von der Klinischen Abteilung für Gastroenterologie und Hepatologie der MedUni Wien.
Bei der klinischen Forschung befinde sich Österreich unter den ersten 15 Ländern. Doch: „Der Engpass liegt in der Versorgung. Was es braucht ist spezialisiertes Wissen, eine spezialisierte Struktur und eine interdisziplinäre Versorgung.“ Die Betreuung der Patienten sei zeitaufwendig, was in den Strukturen zu wenig berücksichtigt werde. „Die Ressourcen, die wir zur Verfügung haben, sind zu gering.“
Ein Problem, so Reinisch: „Als Tertiärzentrum sehen wir vor allem austherapierte Patienten, aber auch Patienten, die von Kollegen behandelt wurden, die evidenzbasierte Medizin verleugnen. Das sind keine Einzelfälle.“ Das sei für die Betroffenen gefährlich bis ökonomisch belastend.

Lebensqualitätsverbesserung durch optimale Therapie

Eine nicht ausreichend unter Kontrolle gebrachte, suboptimal behandelte chronische Erkrankung kann jedenfalls über Jahre und Jahrzehnte eine enorme Belastung für die Betroffenen darstellen, erklärte Mag. Karin Hafner, Gründerin von „hautinfo.at“.
„Ich habe mit meinen 43 Jahren mit atopischer Dermatitis sehr viel ausprobiert, bis ich eine systemische Therapie zugelassen habe, durch die meine Haut binnen weniger Tage abgeheilt ist. Es war für mich der Beginn eines neuen Lebens“, sagte Hafner. Für die Betroffenen sei die Krankheit – auch speziell in einer Zeit, in welcher „der Schönheitswahn immer stärker“ werde – körperlich und psychisch eine oft schwer zu bewältigende Herausforderung. „Jeder sollte auch psychologische Hilfe bekommen können. Mit einer passenden Therapie kann man durchaus ein symptomfreies Leben führen.“

Wissenschaft als entscheidender Faktor

Gerade in der jüngeren Vergangenheit wurden auf dem Gebiet der chronisch entzündlichen Erkrankungen sowohl in der Dermatologie als auch bei CED oder in der Rheumatologie entscheidende Durchbrüche zu besonders wirksamen Therapien erzielt. Die Grundlagen dafür dürften nicht vergessen und sollten mehr gefördert werden, sagte Mag. Ingo Raimon, General Manager von AbbVie in Österreich: „Klinische Prüfungen sind die Basis, auf der die Erkenntnisse der Medizin weltweit vorangetrieben werden.“ Mit jährlich zwischen etwa 450 und knapp unter 500 klinischen Studien, die in Österreich durchgeführt werden, sei deren Zahl in den vergangenen Jahren in etwa gleich geblieben. Mehr als 200 davon entfielen auf den Bereich der Autoimmunerkrankungen.
Österreich müsse jedenfalls danach trachten, ein attraktiver Standort für die Wissenschaft zu sein. „Forschung und Innovation müssen willkommen sein“, erklärte Raimon. Dazu benötige man ein Klima, das insgesamt Innovationen auf dem Arzneimittelsektor für das Wohl der Patienten zulasse und auch finanziell honoriere.