Das gesellschaftliche Chronique-Fatigue-Syndrom?

Am 3. 8. 2020 wurde die MNS-Pflicht in allen öffentlichen Bereichen eingeführt, nachdem sie kurz zuvor gelockert worden war und die COVID-19-Zahlen wieder zu steigen begannen, beinahe zeitgleich hatte der Verfassungsgerichtshof einige der damals gesetzten Maßnahmen als verfassungswidrig beurteilt. Danach kamen steigende Zahlen, ein Zusammenbrechen des Contact Tracings, eine Herbstwelle, der zweite harte Lockdown in Österreich und das Jahr 2021, das ähnlich verlief wie das Jahr 2020 – Maske rauf, Maske runter, Maßnahmen lockern, anziehen, lockern, Variantenwellen und so weiter. Wir wissen es alle.
In der Zwischenzeit sind wir bei den Omikron-Varianten diverser Subgruppen angekommen. Mittlerweile kennen wir das Virus und seinen Namen – es ist Alltag, aber nicht alle haben verstanden, was das bedeutet. „Damit leben“ bedeutet nun einmal nicht, dass es harmlos ist, es bedeutet einen rationalen Umgang damit. Tagtäglich sind wir in unseren Ordinationen immer noch mit Infekt-Patient:innen konfrontiert, die nicht daran denken, dass jegliche Infektsymptomatik – angefangen von einem bisschen Halskratzen bis hin zur akuten Gastroenteritis – auch COVID-19 sein kann. Immer noch müssen wir Menschen bitten, sich doch bitte ihre Masken aufzusetzen oder ordentlich zurechtzurücken, wenn sie die Ordinationen betreten. Einige von uns mühen sich täglich ab, zumindest klar symptomatische Infektpatient:innen von „normalen“ Patient:innen zu trennen und Ansteckungen innerhalb der Ordination zu vermeiden. Selbst wenn es zum Zeitpunkt der Verfassung dieses Editorials keine Quarantäne, sondern nur noch eine „Verkehrsbeschränkung“ für „asymptomatische“ positiv Getestete gibt. In den letzten Tagen bekam ich mehrere Anrufe von sehr netten und gewissenhaften Patient:innen, die von mir wissen wollten, ob ein bisschen Halskratzen und eine minimal rinnende Nase Symptome sind oder ob das noch als asymptomatisch zu werten ist … für mich drängte sich daher die Frage auf, wie viele Patient:innen sich selbst einfach als asymptomatisch interpretieren. Und wie viele Patient:innen überhaupt noch einen Test machen, wenn es „eh wurst ist“ und sie nur milde „asymptomatische“ Symptome haben – unter einer Maske lässt sich auch die Schnupfnase gut verbergen – getestet oder nicht – Quarantäne gibt’s eh keine mehr … Umgekehrt werden Menschen, die sich mit einer Maske schützen wollen und sie zum Schutz öffentlich tragen, von Mitmenschen „schief angeschaut“ weil die Maske zum Stigma der Positivität wurde, nicht zum Grundlagenwissen und Grundsatz eines Selbst- und solidarischen Fremdschutzes. In diesem Zusammenhang hat sich klar eine Pandemiemüdigkeit entwickelt – die ständigen Maßnahmenwechsel, Maske rauf – Maske runter oder dort ja/da nein und die ständige Ungewissheit, was als Nächstes kommt, hat die Bevölkerung einfach müde und mürbe gemacht, das kollektive Ventil ist Frustration und fehlende Empathie Mitmenschen gegenüber.
Jedenfalls ist es eine Beobachtung der letzten Tage und Wochen, dass diverse, milde Infektsymptome oft NICHT als mögliches COVID-19 wahrgenommen werden und erst getestet wird, wenn „das bissl Schnupfen“ 3–4 Tage nicht vergeht oder sich nach ein paar Tagen weitere Symptome dazugesellen, statt dass es besser wird. Wenn es geht und der Schnelltest positiv ist und das Wochenende naht, wird versucht, auch einmal ohne weitere Kontakte und Diagnostik durchzuhalten, „weil’s eh nicht wild ist“ – nach wie vor gibt es aber zwischen Tag 5 und 8 eine mögliche Verschlechterung der Erkrankung. Wird dann doch getestet (und damit meine ich nur AG-Schnelltest), ist mehrheitlich das Fenster für eine antivirale Therapie bereits wieder zu-gefallen. Zuvor wussten wir von vielen Patient:innen nicht, dass sie in Quarantäne waren und COVID-19 hatten – erst wenn sie wegen des Krankenstandes nach der Quarantäne anriefen (dieser Art gab es in Österreich lt. ÖGK bis Juni 2022 ca. 65.000 Stück). Doch auch ohne Quarantäne wissen wir jetzt von ihnen oft nicht schneller, da viele sich nicht wirklich krank einschätzen und sich erst später melden … oder überhaupt erst Tage und Wochen nach ihrem „Infekt“ zu uns kommen, da sie sich noch immer müde, abgeschlagen und nicht fit fühlen, heiser sind, Reizhusten haben oder mit Kreislaufschwierigkeiten, psychischen Problemen oder anderen polytopen Beschwerden bei uns sitzen, weil sie sich seit Wochen brav durch den Alltag schleppen. Und immer noch ist das Erstaunen sehr groß, dass COVID-19 solche lästigen Symptome und auch so lange machen kann … trotz Impfung.