„Der Mensch ist kein Hampelmann“

Ärzte Krone: Herr Professor Musalek, wie ist das Motto des Jahres-symposiums „Zeitgeist und Zeitgeister“ zu verstehen?

Univ.-Prof. Dr. Musalek: „Die Hauptaufgabe der Sozialästhetik ist, Dinge sichtbar zu machen, die üblicherweise unsichtbar sind, aber trotzdem auf uns Wirkung haben – das sind auf der einen Seite Atmosphären, auf der anderen Seite der sogenannte Zeitgeist oder überhaupt die verschiedenen Zeitgeist-Strömungen, denn heute von einem einzigen Zeitgeist zu sprechen ist kaum mehr möglich. Deshalb haben wir auch den Titel Zeitgeist und Zeitgeister genannt. Zeitgeist ist ein Singular-Wort, es gibt also keine Mehrzahlbildungen, daher ist das Wort „Zeitgeister“ ein Neologismus und bedeutet dass wir heute nicht nur von einem Zeitgeist beseelt sind, sondern von mehreren Zeitgeistern. Der Begriff wurde auch deshalb gewählt, weil vieles durch unseren Kopf geistert, ohne dass es uns wirklich bewusst ist, uns aber trotzdem treibt. Das sichtbar und damit auch wieder beeinflussbar zu machen, das ist eigentlich die Hauptaufgabe der Sozialästhetik.“

Womit beschäftigt sich Sozialästhetik?

„Die Sozialästhetik als Wissenschaft vom schönen Zusammenleben fokussiert auf gelebte und erlebte soziale Situationen. Im Mittelpunkt des Forschungsinteresses dieser Alltagsästhetik steht nicht nur der Nutzen und die Nützlichkeit des uns im Alltag Gegebenen, sondern vielmehr die mannigfachen Gesichtspunkte des uns umgebenden und gegenüberstehenden Schönen in all seinen positiven und negativen Wirkungen vom Bewundernswerten und Erhabenen bis hin zum Verachtenswerten und Verabscheuungswürdigen. Der Mensch wird als ein soziales Wesen aufgefasst, das sich im Mit-sein mit dem Anderen konstituiert und manifestiert. Als Menschen sind wir immer und überall soziale Wesen, sodass sich auch nicht mehr die Frage danach stellt, ob wir sozial leben, sondern vielmehr nur, wie wir sozial leben. Diese Frage nach dem Wie – wie wir unser gemeinsames Leben erleben und gestalten – bestimmt damit das Betätigungsfeld der Sozialästhetik: Im Sinne einer sozialen Aisthesis (sinnliche Wahrnehmung des gemeinsamen Lebens) gilt es in der sozialästhetischen Forschung, die Art und Weise unseres Zusammenlebens, die Gestaltungsformen und -möglichkeiten des menschlichen Zusammenlebens und ihre Wirkungen auf unser Sensorium und auf unsere Erlebnisfähigkeiten und Wahrnehmungsmöglichkeiten auszuleuchten und zu verstehen, um damit die Grundlage für eine gedeihliche Entfaltung des Einzelnen in unserer Gemeinschaft und eine Weiterentwicklung des menschlichen Zusammenlebens insgesamt zu ermöglichen. Nur dann, wenn wir die oft im Verborgenen liegenden Bedingungskonstellationen unserer Zusammenlebensformen kennen, können wir sie auch aktiv umgestalten, verbessern und weiterentwickeln. Die Welt ist so, wie wir sie gestalten. Der Mensch ist kein Hampelmann …“

Was ist für solche Veränderungen notwendig?

„Wir können die Welt nur gestalten, wenn wir uns die Strömungen und all die Kräfte, die auf uns und in uns wirksam sind, auch bewusst machen, erkennen und dementsprechend modulieren bzw. ihnen unter Umständen entgegenwirken. Das ist eigentlich die zentrale Aussage. Mit anderen Worten: Wie unsere Gesellschaft beschaffen ist, wie wir zusammenleben, ist nicht etwas, das vorgegeben ist, sondern so, wie wir es gestalten. Wir sind alle in eine Welt geworfen. Heidegger hat das sehr schön ausgedrückt, indem er vom ,geworfenen Entwurf‘`gesprochen hat. Damit hat er eigentlich den Kern getroffen – wir haben uns nicht ausgesucht, ob wir Mann oder Frau sind, ob wir im Westen geboren sind oder wo anders, ob wir eine bestimmte Intelligenz haben oder nicht, eine bestimmte Körpergröße etc. . Wir haben uns nicht einmal aussuchen können, in welchem Zeitalter wir leben. Wir sind schon geworfene, aber wir sind in dieser Geworfenheit zum Entwurf fähig und eigentlich noch mehr. Max Scheler hat den Menschen nicht nur als einen entwerfenden bezeichnet, sondern er hat gesagt ,der Mensch ist ein Macher‘. Wir Menschen sind also nicht nur zu einem Weltentwurf fähig, sondern auch dazu, diesen dann in die Tat umzusetzen. Diese Kosmopoiesis (Weltenneuschaffung) ist unsere zentrale Lebensaufgabe. Die Welt ist nicht so, wie sie ist, sondern so, wie sie von uns geschaffen wird. Wenn wir an der Weltenneuschaffung nicht teilnehmen, dann heißt das nicht, dass die Welt so bleibt, wie sie ist, sondern nur, dass wir anderen den Vortritt im Schaffungsprozess lassen. Neues zu schaffen, braucht Mut – Mut im Sinne von Risikobereitschaft, aber auch im Sinne, etwas mit Kraft und Herz umzusetzen. Vor allem diese letztere Form des Mutes ist unabdingbare Voraussetzung dafür, nicht nur irgendeine, sondern eine für uns alle schönere und damit lebenswertere Welt im Schönen zu schaffen; mit anderen Worten: den Schritt von einer bloßen Kosmopoiesis zur Kosmopoesie zu vollziehen.“

Was waren denn die einzelnen Themen des Symposiums?

„Univ.-Doz. Dr. Martin Poltrum hat sich in seinem Vortrag mit den philosophischen Aspekten von „Zeit und Zeitlichkeit“ auseinandergesetzt – von Aristoteles bis Heidegger und darüber hinaus haben sich die großen Philosophen mit dem Wesen der Vergänglichkeit und der Einsicht beschäftigt, dass die Zeit mehr ist als das, was wir mit den Uhren messen. Dabei gehören die Erörterungen über die Temporalität mit zu den schwierigsten philosophischen Problemen überhaupt. Noch komplexer als das Phänomen der Zeit ist der Begriff des Zeitgeistes, der in der Moderne oft als nicht explizit thematisch gebrauchter Begriff der Kulturkritik fungiert.

Mag. Dr. Ute Andorfer hat über Zeitgeist(-er) – unsere Lieben und Lieblosigkeiten – gesprochen; warum handelt der Mensch in seinem späteren Leben, im Erwachsenenalter lieblos? Warum fehlt es ihm an emotionaler und sozialer Kompetenz? Warum fällt es dem Erwachsenen von heute zunehmend schwerer, empathisch zu sein und sich in seine Mitmenschen hineinzuversetzen? Lieblosigkeit bedeutet auch, dass es an Wertschätzung fehlt, anderen Menschen gegenüber, aber auch anderen Lebewesen, anderen Lebensräumen, Dingen und Tätigkeiten gegenüber.

Das Thema des Vortrages von Univ.-Prof. Dr. Gerhard Budin lautete ,Globalisierung – nichts weiter als ein Medienhype oder Teil der conditio humana?‘ Es ging darum, dass Medienhypes als moderne Manifestationen des Zeitgeistes in der Mediengesellschaft interpretiert werden können. Dem Thema der Globalisierung wird auf sehr unterschiedliche Weise begegnet – als Selbstverständlichkeit, Unvermeidbarkeit oder aber auch als Katastrophe für die Menschheit und als Wurzel allen Übels. Die Frage ist, ob die so-genannte Globalisierung nicht eher ein unabdingbares Merkmal des Menschseins darstellt.
In meinem eigenen Vortrag habe ich mich mit drei großen Missverständnissen beziehungsweise kapitalen Vorurteilen beschäftigt – zum einen, dass wir in der westlichen Welt in einer Demokratie leben, zum anderen habe ich mich mit dem gängigen Gesundheitsbegriff auseinandergesetzt und zum dritten damit, dass die Welt eben so ist, wie sie ist und dass wir ihr vermeintlich ausgeliefert sind.“