Diagnose seltener Erkrankungen in der Hausarztpraxis

Durch die Erfolge bei Diagnostik und Therapie haben die seltenen Erkrankungen im letzten Jahrzehnt immer mehr Aufmerksamkeit bekommen. Die Kosten der „Orphan Drugs“ wurden Thema, aber auch Zentren für Diagnostik und Therapie, spezielle Rehabilitationseinrichtungen, Forschungsnetzwerke, Selbsthilfegruppen und nicht zuletzt Register zur Erfassung von Diagnosen, Therapien und deren Komplikationen.

Herausforderung Diagnose

Kinderärzte und Ärzte für Allgemeinmedizin sind meist die ersten, die einen Verdacht schöpfen. Sie wissen um die Notwendigkeit einer möglichst frühen Diagnosestellung, die Voraussetzung für eine möglichst ursachenorientierte und wirksame Behandlung ist. Die Beschwerden passen zuerst in kein Muster, mehrere Organsysteme sind betroffen, eine unerklärliche Progredienz ist zu bemerken. Häufig fühlt sich kein Organfachgebiet zuständig, da gleichzeitig mehrere Organbereiche betroffen sind; häufig endet auch die spezialierte Diagnostik in der Sackgasse eines Teilbereichs, und nicht zuletzt legt der fehlende Nachweis einer Organkrankheit eine psychische Störung nahe.

Herausforderung: Betreuung

Auf der anderen Seite ist die Behandlung und Betreuung der Betroffenen und deren Angehöriger bei bekannter Diagnose über viele Jahre eine hausärztliche Aufgabe gemeinsam mit einer Vielzahl verschiedener Gesundheitsberufe. Das Dreigestirn Illness, Disease und Sickness bekommt hier Bedeutung.

Illness, Disease, Sickness

Seltene Erkrankungen brauchen eine Diagnose. Diese ist aber nicht die Summe von subjektivem Erleben, objektiven Befunden und gesellschaftlich anerkanntem Kranksein. Diese Begriffe beschreiben unterschiedliche Dimensionen, die hinter einer Diagnose stehen, die mit Inhalt zu füllen sind. Illness steht für das Krankheitsgefühl und die verzweifelte Feststellung der Betroffenen: Niemand weiß, was mir wirklich fehlt. Werde ich ernst genommen? Es muss doch eine Ursache geben. Disease steht für das ärztliche Dilemma: Das Muster kenne ich nicht! Wie komme ich zu einer Diagnose? Gibt es ein Expertisezentrum mit Zeit, Erfahrung und einem Termin? Sickness steht für die gesellschaftliche Anerkennung des Krankseins, für Fragen der Ökonomie in einer solidarischen Gesellschaft, für das Problem der verminderten Arbeitsfähigkeit und für die sozialen Probleme der Familie.

Ist die Diagnose die Summe der Erkenntnisse, die den Arzt zu seinem Handeln und Verhalten veranlasst und die das in einem Wort ausdrückt? Eine Forderung, die Richard Koch in seinem Buch „Die ärztliche Diagnose“ bereits 1917 angezweifelt hat. Oder ist sie die wissenschaftlich zwingende Zuordnung eines Beratungsergebnisses zu einer Krankheitsentität, wie der Lehrmeister der Allgemeinmedizin Robert N. Braun formuliert hat. Oder ist sie der Endpunkt eines diagnostischen Prozesses, in dem aus der Konstellation von Symptomen und erhobenen Untersuchungsbefunden eine Zuordnung zu einem bekannten Krankheitsbild erfolgt, das sich aber im Lauf der Zeit auch ändert – mit medizinischen und sozialen Konsequenzen?

Betroffene und Ärzte brauchen die richtige Diagnose: 1. zum Schutz vor unnötiger weiterer Diagnostik oder falscher Therapie; 2. um zu verhindern, dass Patienten im falschen medizinischen Eck landen; 3. für eine kausale Therapie, die den Verlauf bremsen kann; 4. als Anlass für genetische Umfelduntersuchungen und 5. als Grundlage für eine Prognose, die jedoch in aller Relativität und mit großer Vorsicht kommuniziert werden sollte. Dabei kann die Stellung einer Diagnose Einfluss auf Schulausbildung, Berufswahl, Partnerwahl und Familienplanung haben.

Seltene Erkrankungen: Langer Weg zur Diagnose

Das abwartende Offenhalten der Diagnose mit zunächst symptomatischer Therapie und Beobachtung des Verlaufs ist eine der Grundlagen der hausärztlichen Arbeitsmethode.

Bei unerwartetem Verlauf erfolgen die Eskalation der Diagnostik und der Einbezug von Spezialisten. Organspezialisten ziehen sich bei seltenen Erkrankungen jedoch eventuell zurück: „In meinem Gebiet ist alles in Ordnung!“ Die Patienten kommen wieder zum Hausarzt und drängen weiter auf eine Problemlösung. Diese suchen nach Mustern, nach Ähnlichkeiten, die sie erlernt oder erfahren haben, versuchen eine Kategorisierung: Was ist schlüssig, was widersprüchlich, was wechselt, was ist konstant, was ist psychisch, was somatisch, was ist Kern und was Begleitung?

Recherchetools können bei Vorliegen bestimmter, typischer Symptomkonstellationen helfen, eine Syndromzuordnung zu machen. Beispiele dafür sind Suchmaschinen wie www.symptomsuche.at, www.symptoma.de, www.findzebra.com, www.isabelhealthcare.com. Bei bereits bekannter Diagnose findet man Informationen bei www.orpha.net, das klinische Beschreibungen für seltene Krankheiten zur Verfügung stellt. Gesellschaften und Selbsthilfegruppen für seltene Erkrankungen findet man über www.prorare-austria.org. Die Medizin kann die Diagnose stellen und Therapieempfehlungen geben, aber wenig darüber sagen, wie man mit der Erkrankung lebt. Das können am besten die Betroffenen. Deshalb ist es auch wichtig, die Kraft und Lebensfreude zu nützen, die häufig aus den Selbsthilfegruppen kommt.

Patienten mit seltenen Erkrankungen sind im hausärztlichen Bereich eine große, meist sehr arbeitsintensive Herausforderung. Andererseits sind es häufig auch besonders schöne Patienten-Arzt-Beziehungen, die für die Mühe entlohnen. Neue Informations-Tools, neu geschaffene Zentren, neue Medikamente helfen Hausärzten und Patienten bei Diagnose, Behandlung und Betreuung. Seltene Erkrankungen haben einen festen Platz in der hausärztlichen Praxis.

 

 

Recherchetools

Bei Vorliegen von Symptomkonstellationen

www.symptomsuche.at

www.symptoma.de

www.findzebra.com

www.isabelhealthcare.com

Datenbank über seltene Erkrankungen

www.orpha.net

Selbsthilfegruppen

www.prorare-austria.org

 

 

 

Fallbeispiel 1

Mutter und Tochter mit wiederholten Fieberschüben

Die Mutter wurde mit 11 Jahren appendektomiert und hatte danach 2-mal pro Jahr Fieberschübe bis 40 °C mit hohen Entzündungswerten und Meteorismus. Mit 18 Jahren erfolgte die erste Cortisontherapie, die eine rasche Besserung brachte. Vater und Bruder hatten eine ähnliche Symptomatik, der Großvater „Malaria“. Eine genetische Untersuchung sicherte die Diagnose: „autosomal-dominant periodisches Fiebersyndrom“, „paroxysmale Polyserositis“ oder familiäres Mittelmeerfieber (FMF).

Die Tochter bekam mit 11 Jahren einen hochfieberhaften Infekt mit abdominellen Beschwerden und Appendizitisverdacht – dann wiederholt Bauchschmerz mit Fieber. Eine genetische Untersuchung nach Geburt war bezüglich der mütterlichen Diagnose negativ! Ein hausärztlicher Therapieversuch mit Cortison brachte jedoch rasche Besserung. Eine neuerliche genetische Untersuchung mit 15 Jahren war nun positiv! Im Orphanet wird für das FMF der positive Voraussagewert einer genetischen Analyse mit 70–80 % angegeben.

Die Diagnose wirkte auf Mutter und Tochter entlastend: „Damit kann man leben!“ Colchicin, Cortison, Achtsamkeit bei Ernährung und Stress waren eine Lösung, die besser zu ertragen war als die ständige Ungewissheit über die Ursache.

 

Orphanet: Familiäres Mittelmeerfieber (ORPHA: 342)

Bisher wurden 218 Mutationen im MEFV-Gen (16p13) beschrieben. Das Gen kodiert für das Protein Pyrin/Marenostrin. Die unterschiedlichen Mutationen bestimmen die phänotypischen Unterschiede (homozygote M694V-Mutationen sind mit schwererem Verlauf verbunden). Mit weiteren Ursachen ist zu rechnen, da nicht alle Patienten eine Mutation im MEFV-Gen tragen.

Der positive Voraussagewert einer genetischen Analyse beträgt nur 70–80 %. Das FMF wird autosomal rezessiv vererbt. Eine vorgeburtliche Diagnostik ist möglich. Den Eltern mit MEFV-Mutation soll eine genetische Beratung angeboten werden.

(https://www.orpha.net/consor/cgi-bin/OC_Exp.php?Expert=342&lng=DE, abgefragt am 10. 2. 2020)

 

 

Fallbeispiel 2

Zwillingsbrüder mit Dysarthrie, Ataxie, Muskelschwäche, Blasenentleerungsstörung, Hyperventilationssyndrom, paroxysmalen Tachyarrhythmien

Am Beginn der Beschwerden standen bei beiden im Wachstumsalter Rückenschmerzen, Gangstörungen, Blasenentleerungsstörung, Herzrhythmusstörungen, die bei beiden mit einer Katheterablation behandelt werden, hypertone Krisen, Panikattacken mit Atemnot, zuletzt Schluckstörungen durch eine Ösophagusmotilitätsstörung.
Die Vorstellung beim nächsten Zentrum für seltene Erkrankungen brachte keine Diagnose, eine genetische Untersuchung wegen des Verdachts auf Friedreich-Ataxie ebenfalls nicht. Der Hausarzt hat jedoch 20 Jahre zuvor diese Erkrankung bei einem Geschwisterpaar erlebt, was ihn zum Beharren auf der Verdachtsdiagnose veranlasste.

Ein anderes Zentrum für seltene Erkrankungen wird gesucht. Das Ergebnis der neuerlichen Untersuchungen steht noch aus, die hausärztliche Unsicherheit und die Erwartung einer kausalen Therapie durch die Brüder bleiben, und allen dreien bleibt weiterhin die Mühe der symptomorientierten Behandlungsversuche.