„Die Arzt-Patienten-Beziehung ist bei der Nutzung der telemedizinischen Möglichkeiten wichtiger als je zuvor“

Welche Vorteile kann das Angebot telemedizinischer Konsultationen als Alternative zum persönlichen Arztbesuch bieten?

Giovanni Rubeis:
Eine bessere Erreichbarkeit, Planbarkeit, die Erleichterung des Zugangs: Beispiel wäre die 85-jährige Dame, deren Mobilität eingeschränkt ist, die andernfalls mit dem Bus weit fahren müsste. Die Inklusion von unterversorgten Gruppen könnte gefördert werden. Wir könnten die patientenzentrierte Medizin tatsächlich umsetzen – die Patient:innen müssen sich nicht irgendwelchen Regeln, die das Gesundheitssystem für sie aufgestellt hat, unterwerfen, sondern die Konsultation wird auf ihre persönlichen Bedarfe und Ressourcen zugeschnitten. Der Austausch von Gesundheitsdaten wird erleichtert – Daten aus mobilen Technologien wie Smart Wearable Sensors oder Gesundheits-Apps können direkt an die Ärzt:innen weitergegeben werden. Somit kann Telemedizin zur Personalisierung beitragen.

Für die Ärzt:innen gibt es Vorteile bei der Terminplanung. Im Idealfall, wenn das mit einer guten Datenverwertung einhergeht, kann man vielleicht Zeit einsparen. Die Vernetzung mit anderen Ärzt:innen, die Datenweitergabe über Sektorengrenzen hinaus führt letztlich zur Effizienzsteigerung und hat somit das Potenzial, Kosten zu senken. Das kommt wiederum allen Beitragszahler:innen zugute.

Worauf sollte man bezüglich Chancengleichheit oder -ungleichheit bei der Nutzung von telemedizinischen Services achten?

Dazu gibt es eine gute Studienlage. Es wurde untersucht, wer profitiert davon, an wem geht das vorbei – oft werden die Menschen, für die das den größten Nutzen haben würde, nicht erreicht: Digital Literacy kann man nicht einfach voraussetzen; das hat etwas mit Technikaffinität, der Erfahrung, dem Bildungsgrad, sozioökonomischen Faktoren zu tun.
Typischer Fall: ältere Patient:innen. Eine weitere Ursache sind Sprachbarrieren: etwa Personen mit Migrationshintergrund, besonders dann, wenn für die Nutzung der Technologie eine hohe Sprachkompetenz Voraussetzung ist. Mittlerweile geht man davon aus, dass technische Komponenten – z. B. das mobile Endgerät, die digitale Verbindung – nicht mehr so stark ins Gewicht fallen, weil diese allgemein verbreitet sind.

Welche Rolle spielen Vertrauen und Verantwortung in der Beziehung zwischen Patient:innen und Ärzt:innen bei der Nutzung von Telemedizin?

Vertrauen und Verantwortung spielen immer eine zentrale Rolle: Das ändert sich im Telemedizin-Setting nicht, sondern wird wichtiger, weil die Zusatztechnologien eine große Hemmschwelle darstellen. Es kann Bedenken bezüglich des Datenschutzes oder etwaigen Sicherheitslücken geben, auch sind sich manche nicht sicher, ob sie dem Umgang mit den neuen Technologien gewachsen sind. Da braucht man Vertrauen, dass auf all diese Dinge geachtet wurde. Mitunter kommt oft auch das Gefühl auf, bin ich jetzt Patient:in zweiter Klasse, werde ich da mit so etwas abgespeist? Die behandelnden Ärzt:innen müssen auch vermitteln können, dass Qualitätssicherung betrieben wird, dass die neue Form gut ist und ihren Zweck erfüllt. Der Arzt oder die Ärztin kann in diesem Setting nie ersetzt werden: Je mehr Technologien wir einsetzen, desto wichtiger wird die Arzt-Patienten-Beziehung, sie ist sogar Voraussetzung.

Natürlich gibt es ein Risikopotenzial: Von der Entwicklerseite oder in der gesundheitspolitischen Entscheidungsebene könnte die Überlegung da sein, vielleicht auf diese Weise Personalkosten zu senken – das wäre eine gefährliche Entwicklung.

Führen telemedizinische Konsultationen zu einer besseren persönlichen Beziehung oder eher zu einer Entfremdung zwischen Ärzt:innen und Patient:innen?

Technologie bietet das Potenzial für beides. Diese Technologien können nur dann ihre Benefits entfalten, wenn man das Vertrauen hat. Man sollte sie auch nur dort einsetzen, wo es notwendig und sinnvoll ist, dann wird gleichzeitig auch die Arzt-Patienten-Beziehung gestärkt. Ein Wegfall eines White-Coat-Effekts kann die Arzt-Patienten-Beziehung sogar entspannen.

Wie können Patient:innen, Ärzt:innen und das Ordinationspersonal mit der potenziellen Überforderung im Zusammenhang mit telemedizinischen Konsultationen umgehen?

Das Leadership von allgemeinmedizinischen Ärzt:innen ist da angesprochen, am besten werden Entscheidungen partizipatorisch mit dem Team getroffen: Wie steht es um Bedarf, um Ressourcen, wie kann ich meine Mitarbeiter:innen unterstützen, wie kann ich vorhandene Ressourcen abrufen? Was auch ein Potenzial ist: Zeitersparnis. Hier besteht die Gefahr eines Optimierungswahns, dass man die Zeit zuerst einspart und dann verdichtet – das sehen wir immer wieder. Das Outsourcen von administrativen Aufgaben an Maschinen, dann bleibt mehr Zeit für den Patient:innen: Diese schöne Idee kann man nur dann umsetzen, wenn man die freie Zeit nicht fehlverwendet, um noch mehr Patient:innen durch das System zu schieben.

Wie wird die Patientenautonomie durch die Nutzung von Telemedizin beeinflusst?

Patientenautonomie, Empowerment: Dass ich den Patient:innen die Möglichkeit gebe, selbst aktiv am Behandlungsprozess teilzunehmen, als ein Selbstwirksamkeits-Erlebnis. Sie werden in die Lage versetzt, ihre Gesundheit in die eigene Hand zu nehmen. Die andere Möglichkeit:
Technologien sind ein Monitoring, man fühlt sich überwacht – die App sagt dir, was du jetzt essen sollst. Eine Verhaltensänderung kann für den Behandlungserfolg zwar sehr wichtig sein, aber es erfordert ein menschliches Ermessen von den Ärzt:innen, bis wohin ich meine Empfehlungen ausspreche. Wenn also Technologien falsch eingesetzt werden, kann es die Autonomie unterminieren. Und dazu können auch Sicherheitsrisiken und der massive Eingriff in die Privatheit kommen. Wenn ökonomisch orientierte Konzerne einbezogen werden, die persönliche Daten sammeln und bereitstellen, ist das zumindest bedenklich.

Ärztliche Diagnosestellung über das Netz, mit Übermittlung von Messdaten, Fotos, die Videoaufnahme – geht das?

Die Diagnosestellung ist anders zu sehen als die Konsultation oder das Gespräch. Ein Automatismus kann hier nicht das Ziel sein. Eine Krankmeldung über das System – an der Stimme hört die Ärztin oder der Arzt schon, der ist krank. Aber eine Diagnosestellung, von der ernstere Konsequenzen abhängen, da brauche ich nicht nur quantifizierbare Werte, sondern ich muss die Patient:innen als Person einschätzen können und mit ihrer persönlichen Lebenssituation kontextualisieren. Eine halbe Stunde vorher Anamnesedaten zugeschickt zu bekommen und darauf basierend dann die Diagnose zu stellen, ist nicht zielführend. Will man das Erstellen einer Diagnose aber unterstützen – der Patient oder die Patientin mit der chronischen Erkrankung, den oder die man vorher schon behandelt hat –, dann kann man das Instrument schon sehr gut einsetzen.

Wie beurteilen Sie die ärztliche Kunst, relevante von irrelevanten Daten zu unterscheiden (Heuristik)?

Das ist die ganz zentrale ärztliche Aufgabe bzw. ein wesentlicher Teil des ärztlichen Handelns. Medizin ist keine angewandte Humanbiologie, auch wenn uns das die diversen Systeme glauben machen. Medizin ist „ars et scientia“, also eine Wissenschaft und eine Kunst. Klar, mit Evidenz, aber wie bringe ich das mit der Person, dem Patienten bzw. der Patientin in Einklang? Da spielen viele qualitative Elemente mit, die ich nicht quantifizieren kann. Es gibt ein Problem bei der Fixierung auf Daten, die schon vorselektiert sind: Das suggeriert einen Automatismus. Und hier relevante von irrelevanten Daten zu unterscheiden, geht dann nicht mehr, weil es schon ein gefiltertes Bild ist. So was kratzt an der ärztlichen Autonomie.

Werden durch Telemedizin Kosten gespart oder Kosten generiert?

Kostenersparnis ist seit Beginn eines der zentralen Argumente gewesen und interessiert immer auf der Systemebene. Die Studienlage dazu ist sehr ambivalent. Das Implementieren allein senkt noch keine Kosten. Was ich hier vermisse, ist eine ganz klare Implementierungsstrategie, die von der Systemebene, der Gesundheitspolitik erfolgen müsste: Man müsste zuerst eine Bedarfsanalyse, dann auch eine Implementierungsanalyse machen. Sonst verbauen wir überall Insellösungen, die nicht kompatibel sind. Kosteneffizienz geht nur dann, wenn es eine standardisierte Ebene gibt.

Was verstehen Sie unter „blinden Flecken“ bzw. dem Geschäftsmodell digitale(r) Patient(in)?

„Blinder Fleck“, weil man selten darüber diskutiert bzw. es übersieht: Gesundheit ist auch ein Geschäftsmodell. Nicht alle, die da mitmischen, haben ein genuines Interesse am Wohl des/der Patient/in, sondern ein geschäftliches Interesse. Somit muss man sich gut anschauen:
Warum implementiere ich die Technologie, fördert diese irgendwelche Benefits? Es geht auch um die Fragen:
Wem gehört die Cloud, wer hat die Kontrolle über die Daten? Gibt es hier einen privaten Anbieter, der vielleicht ein eigenes Interesse verfolgt?

Wie beurteilen Sie die Verwendung von künstlicher Intelligenz als Werkzeug für die telemedizinische Konsultation, z. B. in der Vorbereitung – Triage, Ersatz der Ordinationsassistentin, Risikoeinstufung?

Auch hier stellt sich die Frage der Zielsetzung: Künstliche Intelligenz kann ein sehr gutes Werkzeug als Unterstützung sein. Aber eine Automatisierung soll nicht so weit führen, dass man zum Beispiel die Ordinationsassistent:innen gezielt ersetzt, das ist kein gutes Signal an die Patient:innen. Da sind wir wieder beim Thema Vertrauen.

Wäre Telemedizin als hauptsächliche Form und die persönliche Konsultation als alternative Form der Versorgung in Zukunft vorstellbar bzw. ethisch vertretbar – und wenn ja, unter welchen Voraussetzungen?

Flächendeckend ist das sicher nicht vorstellbar, „one size fits all“ trifft in der Medizin nicht zu. Es könnte aber für manche Patient:innen persönlich der einfachere Weg sein. Wir werden da eine Flexibilisierung sehen, bei bestimmten Patient:innen, Konstellationen und Krankheitsbildern. Wenn man die Technologien den Ressourcen von Patient:innen anpasst, dann spricht nichts dagegen, dass man outsourct. Digitale Technologien können nur dann sinnvoll eingesetzt werden, wenn sie in eine Arzt-Patienten-Beziehung eingebettet sind, und die Arzt-Patienten-Beziehung ist bei der Nutzung der telemedizinischen Möglichkeiten wichtiger als je zuvor.

Vielen Dank für das Gespräch!