Aspekte der allgemeinmedizinischen Lehrpraxis im Studium und in der Fachausbildung

1. Das Fach „Allgemeinmedizin“ auf der Suche nach seiner Identität

In den 1950er-Jahren begann mit der europaweiten Gründung allgemeinmedizinischer Gesellschaften die Erforschung der Allgemeinmedizin als eigene Disziplin. Insbesondere R. N. Braun versuchte in internationaler Zusammenarbeit mit einer Vielzahl von Kolleg:innen das Prinzip der Allgemeinmedizin über alle Verschiedenheiten der Gesundheitssysteme hinweg zu definieren. 1974 beschrieb die Leeuwenhorst-Gruppe das Berufsbild „General Practitioner“ mit sich von anderen Arztbildern klar unterscheidenden Merkmalen und formulierte die Konsequenzen für die Ausbildung.

1978 wurde in der Alma-Ata-Konferenz die Bedeutung der medizinischen Grundversorgung in einer Deklaration festgestellt und dringender Handlungsbedarf eingemahnt. 1998 erfolgte eine Definition der WHO zum Begriff „General Practice“, um die Erfüllung der in der Alma-Ata-Deklaration1 beschriebenen Aufgaben zu gewährleisten. 2002 erfolgte die europäische Definition der Allgemeinmedizin/Hausarztmedizin durch die Europäische Gesellschaft für Allgemeinmedizin – WONCA Europe.2 In diesem Grundsatzpapier wurden vor allem auch die Schlüsselkompetenzen für den Beruf „Ärzt:in für Allgemeinmedizin“ zusammengefasst. Die European Academy of Teachers in General Practice (EURACT) erarbeitete im Anschluss eine gemeinsame Stellungnahme zur Umsetzung der „European Definition of General Practice“ in der Ausbildung: „The EURACT Educational Agenda“.3 Die Lehre in der niedergelassenen allgemeinmedizinischen Praxis wird darin gefordert, also an jenem Ort, an dem in der Regel auch die spätere Tätigkeit stattfindet. Aufgrund einer Vorgabe der Europäischen Union wurden 1994 in der Ärzteausbildungsordnung 6 Monate Ausbildung in Einrichtungen, die der medizinischen Erstversorgung dienen, festgeschrieben. Erst mit der Änderung der Ausbildungsordnung 2015 hat sich diese Vorgabe in Österreich verwirklicht.

2. Lehrpraxis Allgemeinmedizin im Klinisch-Praktischen Jahr (KPJ)

Bei den meisten Studierenden besteht noch keine gefestigte Entscheidung für ein Fach. Vorurteile gegenüber dem Fach Allgemeinmedizin können überwunden, die Wahl dieses Faches eventuell gestützt werden.
Das Vorurteil „Mangel an Komplexität“ weicht in der Regel rasch der Erkenntnis, dass in der Realität ein rascher Wechsel der Komplexität erfolgt, auf den angemessen reagiert werden muss. Dass Allgemeinmedizin nur Erstversorgung erbringt, wie oft fälschlich dem Begriff „Primary Care“ entnommen wird, ist ebenfalls ein Lernergebnis der ersten Tage. Die hausärztliche Wirklichkeit mit kontinuierlicher Versorgung, Nachbetreuung, Simultanbetreuung mit anderen Berufsgruppen, Umgang mit Lebensstilrisiken, Sekundärprävention und Tertiärprävention ist in den wenigen Wochen des Klinisch-Praktischen Jahres (KPJ) erfahrbar. Die eigene Methodik der Allgemeinmedizin mit ihrem generalistischen Ansatz, der Patientenorientierung anstelle einer Organzentrierung, mit einem Shared-Decision-Prozess, Zeit als diagnostischem Faktor, Erkennen von Krankheiten in frühen Stadien, Erkennen von abwendbar gefährlichen Verläufen kann gerade in der allgemeinmedizinischen Lehrordination eindrücklich vermittelt werden. Aspekte der kontinuierlichen Behandlungsbeziehung, Herausforderungen im Bereich der Diagnostik im Niedrigprävalenzbereich sowie die spezifische problemorientierte Entscheidungsfindung können vermittelt werden.

Die Studierenden sollen den klinischen Alltag einer allgemeinmedizinischen Ordination kennenlernen und haben in diesem Abschnitt auch die Möglichkeit, den niedergelassenen Bereich kennenzulernen. Alle anderen Pflichtteile des Klinisch-Praktischen Jahres werden im Krankenhaus absolviert, und somit kommt diesem Teil auch die Aufgabe zu, neben der praktischen Vertiefung der theoretisch bereits vorgebildeten Fertigkeiten im Fach Allgemeinmedizin die extramurale Arbeitsweise kennenzulernen. Im Rahmen dieser Lehrordinationszeit sollen die Basisskills der Allgemeinmedizin unter Supervision erarbeitet werden. Dies passiert im Rahmen einer 1:1-Betreuung, und damit kann und wird auch die Freude am Fach Allgemeinmedizin von den Ordinationsinhaber:innen an die Studierenden weitergegeben. An den verschiedenen Medizinischen Universitäten in Österreich ist das letzte Studienjahr unterschiedlich gestaltet, aber es ist an allen Standorten möglich, zumindest vier Wochen in einer allgemeinmedizinischen Ordination zu verbringen, in Wien als Wahlfach, an den anderen Standorten als Pflichtfach mit der Möglichkeit zur wahlweisen Verlängerung.

3. Lehrpraxis am Ende der Fachausbildung Allgemeinmedizin

Die Entscheidung für die spezifische Ausbildung im Fach Allgemeinmedizin ist bei den Auszubildenden am Ende der Turnuszeit bereits gefallen. Zwei Bildungsphasen, Studium und Turnusausbildung im stationären Bereich, sind bereits vorbei, die erste ärztliche Erwerbstätigkeit ebenfalls. Die Vertiefung, Erweiterung und Erneuerung von bereits bestehendem Wissen, Fähigkeiten und Fertigkeiten mit dem Schwerpunkt auf Anforderungen im niedergelassenen Bereich der Allgemeinmedizin ist nun das Ziel. Die Kompetenz zur eigenverantwortlichen, leitenden Praxistätigkeit soll am Ende der Ausbildung vorhanden sein.

Die Inhalte des Rasterzeugnisses sollen nach den Prinzipien des Erwachsenenlernens vermittelt werden. Ein starker Wunsch nach selbstgesteuertem Lernen und Einbringung eigener Erfahrungen sollte berücksichtigt werden. Der Kompetenzerwerb ist auf einen effizienten und effektiven Umgang mit einer Fallvielfalt ausgerichtet. Eigenverantwortliche Tätigkeit inklusive Fähigkeiten zur Organisation einer Praxis und Führung von Mitarbeiter:innen sind das Ziel.

Medizinische Expertise und Berufsethos sollen vertieft werden. Die Reflexion der intellektuellen und emotionalen Veränderungen während der Ausbildungszeit ist deshalb ebenso Thema wie Professionalität im Allgemeinen. Damit ist gemeint:

  • Verantwortung gegenüber sich selbst
  • Verantwortung gegenüber den Patient:innen
  • Verantwortung gegenüber anderen an der Patientenversorgung beteiligten Berufsgruppen
  • Verantwortung gegenüber der Gesellschaft bzw. dem Sozialversicherungssystem

Die Achtsamkeit bei Unterstützungsprozessen hat großen Stellenwert: Terminmanagement, Dringlichkeitsbeurteilung, Telefonarbeit, Vorbereitung diagnostischer und therapeutischer Maßnahmen, Dokumentation, Hygiene etc.

Bei den Kernprozessen wird der Fokus auf Unterschiede zwischen stationärem und niedergelassenem Bereich gelegt. Vor allem die Grenzen der eigenen Kompetenz, das Erkennen eines abwendbar gefährlichen Verlaufes bzw. von „red flags“ bekommen besonderen Augenmerk. Auch der Umgang mit dem Erstattungskodex der Sozialversicherungen (EKO), mit Medikamentenplänen, Überweisungen und Einweisungen sind wichtige Themen.

Zwei didaktische Methoden wurde 2014 von der Sektion Allgemeinmedizin der Österreichischen Ärztekammer und der Österreichischen Gesellschaft für Allgemeinmedizin besondere Bedeutung beigemessen:

a) Dem EPA–Konzept (Entrustable Professional Activities): „Systematisches Erlernen anvertraubarer fachspezifischer Tätigkeiten“; damit soll die Vermittlung der Inhalte des Rasterzeugnisses erleichtert und die Lernfortschritte besser evaluierbar gemacht werden. Mehrere Kompetenzen des Rasterzeugnisses wurden dafür in 14 Leistungspaketen zusammengefasst.

b) Der Cognitive-Apprenticeship-Methode: „Reflektierendes Lernen lehren“ – Alltagsroutinen werden in Teilschritten als klare Handlungsabfolge dargestellt und in ihrer Bedeutung für die Zielerreichung erklärt. Ein Vergleich mit der erlernten Vorgangsweise im stationären Bereich wird versucht. Die Einsicht in die Logik der Teilschritte durch Anregung zur Reflexion ermöglicht einen besseren Nachvollzug.

4. Befähigung zur Führung einer Lehrordination bzw. Lehrpraxis

Da es an den verschiedenen Medizinuniversitäten in Österreich unterschiedliche Curricula gibt und sie sich auch in den Vergabe- bzw. Bezahlungsmodalitäten unterscheiden, gibt es an den verschiedenen Standorten auch verschiedene Beurteilungskriterien und Ausbildungen, um als Lehrordination tätig sein zu können. Die Ausbildung an den verschiedenen Universitäten für Lehrordinationen im KPJ wurden, so weit wie möglich, homogenisiert. Die Akkreditierung an einer Uni gilt auch an allen anderen, es muss nur ein kleiner unterschiedlicher Teil zu den organisatorischen Rahmenbedingungen am jeweiligen Standort absolviert werden. Die Ausbildung der Lehrpraxisleiter:innen für Turnusärzt:innen ist österreichweit einheitlich über die Ärztekammer geregelt.