Die Bürde des chronischen Schmerzes

Chronischer Schmerz kostet 300 Milliarden Euro in Europa

Alleine in Österreich leiden mehr als 1,5 Millionen Menschen an chronischen Schmerzen. „Das oft sehr belastende individuelle Leid Betroffener ist nur die eine Seite der Medaille, die andere sind die gesellschaftlichen Konsequenzen“, betonte Univ.-Prof. DDr. Hans Georg Kress, Präsident des Dachverbandes der Europäischen Schmerzgesellschaften (EFIC) und Vorstand der Abteilung für Spezielle Anästhesie und Schmerztherapie, AKH Wien: „Die Gesamtbelastungen für die EU-Volkswirtschaften schätzt eine aktuelle Untersuchung auf 300 Milliarden Euro.“
Ins Gewicht fallen nicht nur die zwei bis sechs Arztbesuche, die laut „Survey of chronic pain in Europe“ bei 60% der Schmerzpatienten im Halbjahr vor der Befragung notwendig waren, oder sonstige Behandlungskosten. Wirtschaftlich relevant sind vor allem auch die Produktivitätseinbußen – also die durch Krankheitstage, Berufsunfähigkeit und Frühberentung entstehenden Kosten.
„Wenn wir Schmerzpatienten im arbeitsfähigen Alter betrachten, zeigen Studien, dass rund zwei Drittel der Gesamtkosten der Schmerzzustände aus Produktionsausfällen bestehen. Die Leistungsfähigkeit von Schmerzpatienten beträgt nur 71% derer, die keine Schmerzen haben“, rechnete Kress vor. „Rückenschmerzpatienten etwa, die noch arbeitsfähig sind, kommen im Durchschnitt auf 41 Krankenstandstage pro Jahr.“
Rund 500 Millionen Arbeitstage gehen in der EU jährlich aufgrund von chronischen Schmerzen verloren – das allein bedeutet einen wirtschaftlichen Verlust von 34 Milliarden Euro im Jahr. Das Review „Epidemiology of chronic non-cancer pain in Europe“ kam zum Ergebnis, dass 22% der Schmerzpatienten, die wegen ihrer chronischen Schmerzen einen Krankenstand beanspruchen müssen, länger als zehn Tage nicht zur Arbeit gehen. „Das Risiko, den Beruf aufgrund von chronischen Schmerzen aufzugeben, steigt gegenüber der gesunden Bevölkerung auf das Siebenfache“, so der EFIC-Präsident. „Das wird auch anhand der österreichischen Zahlen besonders deutlich. Mit 30,4% bei den Invaliditätspensionen und 18% bei den Berufsunfähigkeitspensionen stellen in Österreich Erkrankungen des Bewegungsapparates den zweithäufigsten Grund für krankheitsbedingte Pensionierungen dar. Etwa 4.500 Neupensionierungen pro Jahr sind auf chronische Rückenschmerzen zurückzuführen.“ Insgesamt werden die Kosten, die chronischer Schmerz in Österreich verursacht, auf eine Größenordnung von 1,4–1,8 Milliarden Euro geschätzt. Allein auf nichtspezifischen Rückenschmerz etwa entfallen rund 174 Millionen Euro, davon 58 Millionen Euro nur für Krankenhausaufenthalte.
„Die gesellschaftlichen Folgen der Krankheitslast und die Dringlichkeit, darauf zu reagieren, sind Gesundheitspolitikern in ganz Europa – und auch hierzulande – nicht ausreichend bewusst“, kritisierte Kress. „Die Behandlung chronischer Schmerzen muss von Entscheidungsträgern als Priorität erkannt werden. Für die Schmerzforschung, für die schmerztherapeutischen Aus- und Weiterbildung und für moderne Schmerztherapien müssen mehr Ressourcen zur Verfügung gestellt werden. Wesentlich sind auch schmerzpräventive Maßnahmen. Mehrkosten tragen sich durch spätere Pensionsantritte, eingesparte Krankenstandstage, Krankenhausaufenthalte oder Betreuungskosten selbst. Und das ist in der aktuellen Krise, in der in immer mehr Ländern auch an Gesundheitsausgaben gespart wird, wichtiger denn je.“

Defizite in der Versorgung von Schmerzpatienten beseitigen

„Chronischer Schmerz ist eines der größten und bis dato unzureichend gelösten Gesundheitsprobleme. In der EU sind bis zu 60% der Patienten mit ihrer Schmerztherapie unzufrieden. Trotz der massiven und permanenten Belastung hat jeder Zweite bis zur adäquaten schmerzmedizinischen Versorgung mehr als zehn Ärzte konsultiert“, kritisierte Univ.-Prof. Dr. Günther Bernatzky, Naturwissenschaftliche Fakultät, Universität Salzburg. „Bei fast 50% der Patienten mit chronischen Rückenschmerzen besteht der Schmerz auch fünf Jahre nach Behandlungsbeginn weiter fort. Das ist ein ernüchternder Befund, zumal Wissen und Methoden vorhanden sind, um chronische Schmerzen gut zu kontrollieren und ihnen in vielen Fällen sogar vorzubeugen, indem man sie nicht chronifizieren lässt.“
Ein aktueller Bericht der EFIC geht davon aus, dass 21% der Österreicher, also rund 1,5 Millionen Menschen, chronische Schmerzen haben. „Das entspricht den Ergebnissen der ersten Umfrage der Österreichischen Schmerzgesellschaft (ÖSG) zu diesem Thema vor einem Jahrzehnt“, so Bernatzky. Das sei allerdings kein Anlass zur Einschätzung, dass sich trotz vieler Bemühungen in Sachen Schmerzmedizin nichts getan habe. „Es hat sich sehr vieles getan, gelungen ist etwa eine Enttabuisierung des Themas Schmerz, die allmähliche Anerkennung des Schmerzes als eigenständiges Krankheitsbild, die zunehmende Entstigmatisierung von Opioid-Schmerzmedikamenten und der Abbau von Opioid-Phobien sowie die Patientenaufklärung auf breiter Basis.“ Einer der ÖSG-Erfolge: Vor wenigen Jahren wurden die Grundlagen zur Vergabe des Schmerzdiploms der Ärztekammer geschaffen. „Bisher haben 633 Ärzte dieses Diplom erworben“, berichtete Bernatzky. In nahezu jedem Bundesland existiert mindestens eine Schmerzambulanz.“
Trotz vieler ernüchternder Zahlen stehe Österreich im EU-Ranking schmerzmedizinisch „relativ gut da“, meint Bernatzky. „In Österreich dauert es im Durchschnitt ca. 1,7 Jahre, bis eine korrekte Diagnose erstellt ist, im EU-Durchschnitt sind es 2,2 Jahre. Nach wie vor ohne angemessene Behandlung sind 23% aller Österreicher, damit liegen wir an der zweitbesten Stelle, im EU-Durchschnitt sind es 38%.“

Forderungen an die Gesundheitspolitik

Das sei allerdings kein Grund, sich mit der Versorgungssituation in Österreich zufriedenzugeben, betonte auch Prim. Univ.-Prof. Dr. Rudolf Likar, MSc, Zentrum für Interdisziplinäre Schmerztherapie, Onkologie und Palliativmedizin (ZISOP), Klinikum Klagenfurt. „Wir erwarten vom Gesundheitssystem, dass die Forderungen, die von der ÖSG seit vielen Jahren erhoben werden, endlich umgesetzt werden. Geschieht das nicht, muss damit gerechnet werden, dass die Folgekosten des chronischen Schmerzes unser System bis zur Unfinanzierbarkeit belasten.“
Unbefriedigend sei der Zugang zu modernen Therapieoptionen: „Obwohl etwa 1.400 Ärzte die Schmerzpetition der ÖSG in Zusammenarbeit mit anderen Gesellschaften zu innovativen medikamentösen und nichtmedikamentösen Therapieformen unterschrieben haben, hat letztlich im Hauptverband keine Änderung im Sinne einer Genehmigung zur Verschreibung weiterer Analgetika, die teils in anderen Ländern von der Kasse bezahlt werden, stattgefunden.“
Oberstes Ziel müsse es weiterhin sein, die Qualität in den Bereichen Prävention, Diagnose und Behandlung von Schmerzen zu verbessern. „Dafür brauchen wir unter anderem eine einheitliche Definition des chronischen Schmerzes, eine eigene ICD-Kodierung für Schmerz, klare Kriterien für interdisziplinäre Betreuung, umfassende Datenerhebungen zur schmerzmedizinischen Situation in Österreich und eine flächendeckende Versorgung mit schmerzmedizinischen Einrichtungen. Außerdem muss die schmerzmedizinische Aus- und Weiterbildung für Ärzte optimiert werden.“
Notwendig sei auch eine sinnvoll abgestufte Versorgung, so Likar, „vom Hausarzt zum Schmerzmediziner zur Schmerzambulanz zur Schmerzabteilung zum Schmerzkrankenhaus, mit der ÖSG als Drehscheibe und Kompetenzzentrum. Schmerzversorgung muss auch außerhalb von Zentren, in denen zum Beispiel eine Schmerzambulanz vorhanden ist, erfolgen. Es besteht bei allen Betroffenen Übereinstimmung, dass nicht nur die Therapie verbessert werden soll, sondern auch vieles unternommen werden muss, damit eine Prophylaxe der Chronifizierung erfolgt.“