Erstmals gemeinsame ESC-Leitlinie

Zum ersten Mal wurden dieses Jahr am Kongress der ESC Leitlinien zum Thema ACS präsentiert.
Bisher gab es getrennte Guidelines jeweils für den ST-Hebungsmyokardinfarkt (STEMI) bzw. den Nicht-ST-Hebungsmyokardinfarkt (NSTEMI). Diese Zusammenführung ist vernünftig, denn das ACS umfasst den akuten Myokardinfarkt bestehend aus STEMI, aus NSTEMI und die instabile Angina. Der Gedanke der ESC war, dass alle Patient:innen mit einem suszipierten ACS einen ähnlichen Diagnose- und Management-Algorithmus durchlaufen sollten.

Diagnosefindung

Um von einer Arbeitsdiagnose ACS zu einer finalen Diagnose zu kommen, sind drei Variablen wichtig: klinische Präsentation, EKG und hs-Troponin. Die klinische Präsentation der ACS-Patient:innen kann sich von oligosymptomatisch bis klinisch instabil im Rahmen eines kardiogenen Schocks erstrecken. Eine ähnliche Bandbreite findet sich im EKG; bei einem Teil ist das EKG unauffällig, beim anderen wird es eindeutige Ischämiezeichen wie zum Beispiel ST-Hebungen geben. Die ST-Streckenhebung ist zwar das sensibelste Anzeichen für eine akute Koronararterienokklusion, doch gibt es weitere EKG-Zeichen, die auf eine koronararterielle Flusslimitation hindeuten können. Diesbezügliche EKG-Beispiele finden sich im Supplement der Leitlinien.

Liegen Zeichen einer akuten (und kompletten) Okklusion – wie beim STEMI – vor, dreht sich nach wie vor alles um „time is muscle“. Ist ein Herzkatheterlabor unter 120 Minuten verfügbar, so ist eine perkutane koronare Intervention (PCI) einer Fibrinolyse vorzuziehen. Sollte dies nicht möglich sein, wird nach wie vor eine Fibrinolyse mit sofort anschließendem Transfer in ein Zentrum mit der Möglichkeit einer PCI empfohlen. Bei erfolgreicher Lyse wird eine Angiografie zwischen 2 und 24 Stunden nach der Fibrinolyse empfohlen. Nach erfolgreicher Revaskularisation sollte der/die Patient:in auf einer CCU/ICCU für zumindest 24 Stunden und danach mittels Telemetrie für zusätzlich 24–48 Stunden rhythmologisch überwacht werden.

Gibt es elektrokardiografisch keine Hinweise auf eine komplette Okklusion (dabei kann natürlich schlussendlich sehr wohl ein kollateralisierter Verschluss vorliegen) und liegt damit auch keine automatische Indikation für eine akute Koronarangiografie vor, ist es Zeit, sich der dritten Variable, dem hs-Troponin, zuzuwenden. Hier ist besonders die Dynamik in der ersten Stunde von Bedeutung. Damit sollten Patient:innen einer ACS-Kategorie zugeordnet werden können, oder andernfalls kann ein ACS ausgeschlossen werden.

Die Zeitspanne für die invasive Abklärung bei Patient:innen ohne ST-Hebungen richtet sich nach der Risikoeinschätzung. Hochrisikopatient:innen sollten schnell einer Herzkatheteruntersuchung unterzogen werden, während Patient:innen mit hohem Risiko oder instabiler Angina während des Krankenhausaufenthalts untersucht werden sollten. Ein elektiver Termin ist bei fehlendem hohem Risiko (auf die Bezeichnung „niedriges Risiko“ wird bewusst verzichtet) möglich. Die zentrale Botschaft dieses Behandlungsalgorithmus lautet, Patient:innen mit einer akuten Koronararterienokklusion zu identifizieren und so schnell wie möglich einer Reperfusionstherapie zuzuführen. Insbesondere NSTEMI-Patient:innen mit akuter Okklusion, die nicht den STEMI-Kriterien entsprechen, sind oftmals eine unterversorgte, unteridentifizierte Gruppe. Von der grundsätzlichen Unterscheidung in okklusiven und nichtokklusiven Myokardinfarkt wird jedoch in den Guidelines Abstand genommen, um – wie die Task Force erklärt – einen pragmatischen, einfachen Zugang zu gewähren. Der erste Schritt in Richtung Revolution ist jedoch mit diesen Leitlinien getan.

Antithrombotische Therapie

Ein Schlüsselelement im Management von ACS-Patient:innen ist die antithrombotische Therapie, bestehend aus einer Plättchenhemmung und einer Antikoagulation. Zum Zeitpunkt der Diagnose wird die Behandlung mit ASS und einer parenteralen Antikoagulation, zum Beispiel mit unfraktioniertem Heparin, für alle ACS-Patient:innen empfohlen. Eine Routine-Vortherapie mit P2Y12-Inhibitoren ist aufgrund einer kritischen Neuinterpretation der schon älteren Studien obsolet. Nach erfolgter PCI haben die meisten Patient:innen keine Indikation für eine Antikoagulation, womit die Standard-Therapie einer 12-monatigen dualen Plättchenhemmung mit ASS und einem P2Y12-Inhibitor indiziert ist. Auf der einen Seite kann bei erhöhtem Blutungsrisiko diese Standard-DAPT entweder verkürzt oder deeskaliert, auf der anderen Seite bei erhöhtem Ischämierisiko verlängert werden. Diesbezügliche Schemen sind in den Leitlinien enthalten.

Nach dem invasiven Management mit der zugehörigen antithrombotischen Therapie gilt es daran zu denken, wie das nächste ACS verhindert werden kann. Im Rahmen der Sekundärprävention wird in den Leitlinien eine so früh wie möglich eingeleitete lipidsenkende Therapie empfohlen, sowohl aus prognostischen als auch Patient:innen-motivierenden Gründen. Gestartet wird mit einem hochpotenten Statin und ggf. mit Ezetimib oder/und erweitert um einen PCSK9-Inhibitor, Inclisiran oder Bempedoinsäure zur Erreichung des LDL-C-Ziels.

Influenza-Impfung zur Verringerung des Infarktrisikos

Spätestens nach der COVID-19-Pandemie ist uns bewusst, dass eine Virusinfektion ein Trigger für kardiovaskuläre Events sein kann. Bis 1 Woche nach einer Influenza-Infektion besteht ein bis zu 6-fach erhöhtes Risiko für einen akuten Myokardinfarkt, verursacht durch den Zytokinsturm, die Destabilisierung von Plaques und eine aktivierte Gerinnung. Eine Impfung kann dieses Risiko deutlich senken, nahezu im selben Ausmaß wie eine adäquate Lipidtherapie. Die Ergebnisse der im Jahr 2021 publizierten Studie „IAMI“ zeigten den präventiven Effekt der Impfung bei Hochrisikopatient:innen mit koronarer Herzerkrankung. Der primäre Endpunkt (All-Cause Death, MI, Stentthrombose < 12 Monate) konnte durch die Vakzination deutlich gesenkt werden. Eine Metaanalyse bestätigt eine absolute Risikoreduktion von 4,5 % und eine „number needed to treat“ von 23. Demnach wird eine Immunisierung allen ACS-Patient:innen empfohlen (Klasse-1A-Empfehlung), idealerweise in der Influenza-Saison bereits während des Krankenhausaufenthalts.