Geschlechtsunterschiede bei kindlicher Adipositas

Die Prävention kindlicher Adipositas ist aus mehrerlei Gründen bedeutungsvoll.

  1. Die Behandlungsmöglichkeiten sind begrenzt, der Erfolg der Behandlungsmethoden limitiert.
  2. Kindliche Adipositas ist ein enormer Risikofaktor für Adipositas im Erwachsenenalter.
  3. Adipositas ist vergesellschaftet mit zahlreichen Komorbiditäten, vor allem mit Typ-2-Diabetes und kardiovaskulären Erkrankungen.
  4. Diese Konstellation führt zur Reduktion der Lebenserwartung.

Um Prävention erfolgreich ein- und umsetzen zu können, bedarf es einer zielgerichteten Strategie. Unterschieden zwischen den Geschlechtern wurde diesbezüglich bisher wenig bis keine Beachtung geschenkt. Wie neuere Untersuchungen zeigen, sind die Ursachen für Übergewicht und Adipositas bei Buben und Mädchen unterschiedlich, diese Unterschiede zu erkennen und zu berücksichtigen, könnten die Treffgenauigkeit von Präventionsmaßnahmen erhöhen.

Geschlechtsspezifische Unterschiede

Zahlreiche Studien in verschiedenen Ländern beobachten eine höhere Adipositasrate bei Buben im Vergleich zu Mädchen. Neben den biologischen Unterschieden – wobei hier die vor allem in der Pubertät gravierenden hormonellen Unterschiede zwischen Buben und Mädchen die bekanntesten sind – sollten die Unterschiede im sozialen Geschlecht mehr in den Fokus gerückt werden. Die soziokulturellen Hintergründe mit angenommenen oder auferlegten sozialen geschlechtsspezifischen Normen, Verhaltensmuster und Verhaltensweisen bis hin zu geschlechtsspezifischer gesellschaftlicher Erwartungshaltung beeinflussen Risikofaktoren für die Entwicklung einer kindlichen Adipositas.

Biologische Unterschiede

Biologische Unterschiede zwischen Buben und Mädchen sind schon intrauterin zu erkennen. Mädchen zeigen im dritten Schwangerschaftstrimester weniger Wachstum im Vergleich zu Buben, darüber hinaus weisen sie nach der Geburt eine größere Fettmasse und weniger fettfreie Masse auf, sodass der Kalorienbedarf und folglich die notwendige Trinkmenge bei ihnen geringer ausfällt. Leptin, ein Hormon zur Regulation des Appetits und des Energieverbrauches, ist eng mit Fettmasse und Adipositas assoziiert. Ein Zusammenhang der Leptinexpression mit Geschlechtshormonen wurde ebenfalls beschrieben. Zum Beispiel führen hohe Androgenspiegel bei Buben zu niedriger Leptinkonzentration. Auch die Insulinresistenz ist bei Mädchen stärker ausgeprägt, dies ändert sich erst gegen Ende der Pubertät, indem die Insulinresistenz bei Männern im Vergleich zu Frauen stärker wird. Die hormonellen Unterschiede zwischen den Geschlechtern betreffen also weit mehr Körperfunktionen als die Gonadenachse allein, die hormonellen biologischen Unterschiede erklären aber nur teilweise die variierende Adipositasprävalenz.

Sozioökonomischer Status und gesunde Ernährung

Soziale Normen und familiäres Umfeld prägen die Nahrungsaufnahme und Essgewohnheiten. Geschmacksvorlieben werden in den ersten Lebensmonaten und -jahren ausgebildet, also in jener Zeit, in der Eltern die Kontrolle über die Nahrungszufuhr bei ihren Kindern haben. Das familiäre Essverhalten und die familiären Essgewohnheiten prägen, die wiederum von finanziellen Möglichkeiten und vom sozialen Status beeinflusst werden. Gesündere Lebensmittel gelten als teurer, ein Zusammenhang von Haushaltseinkommen und Bildungsstatus der Eltern mit der Adipositasrate wurde für OECD-Länder beschrieben.
Zahlreiche Studien, die meisten davon in den USA durchgeführt, beschreiben einen Zusammenhang von häufigem Konsum von fettreichen, hochkalorischen und zuckerhaltigen Lebensmitteln mit niedrigem Einkommen und Sozialstatus. Soziokulturelle Entbehrungen in der frühen Lebensphase sind mit erhöhtem Risiko verbunden, später im Leben ein ungünstiges Ernährungsprofil beizubehalten, Übergewicht und Adipositas und in weiterer Folge ein metabolisches Syndrom oder Typ-2-Diabetes zu entwickeln. Der prägende Einfluss sozialer Deprivation in der frühen Kindheit mit Einfluss auf den Body-Mass-Index und das metabolische Syndrom scheint bei Frauen stärker ausgeprägt zu sein als bei Männern. Interventionsprogramme müssen also frühzeitig einsetzen und spezifisch für Mädchen und Buben adaptiert werden.
Neben diesen sozioökonomischen Einflüssen ist die Wahl der konsumierten Nahrungsmittel von geschlechtsspezifischen Unterschieden beeinflusst. Mädchen zeigen eine Vorliebe für Nahrungsmittel mit niedrigerem Energie- und höherem Nährstoffgehalt, z. B. Früchte und Gemüse, während Buben mehr Fleisch und höherkalorische/energiedichtere Lebensmittel wählen. Mädchen beklagen Gewichtsprobleme und sprechen häufiger darüber, als dies für Buben zutrifft. Kulturell bedingte, traditionelle Vorstellungen, dass Buben mehr essen, um satt zu werden und damit stark und leistungsfähig zu sein, während für Mädchen ein Bild von Schlankheit und Schönheit gezeichnet wird, dürften Verhaltensweisen beim Nahrungskonsum zusätzlich prägen. Eltern berichten in mehreren Studien, dass sie dem Gewichtsstatus der Töchter mehr Beachtung schenken würden, während sie ihre Söhne auffordern, mehr zu essen.

Sportliche Aktivität

Die sportliche Aktivität in Schulen ist für Mädchen wie Buben im selben Stundenausmaß angesetzt, wenngleich die Gestaltung des Sportunterrichts unterschiedlich erfolgen mag. Das Ausmaß der außerschulischen Bewegung wird für Buben signifikant höher beschrieben als für Mädchen, wobei die Teilnahme an organisierten Sporteinrichtungen stark mit dem sozioökonomischen Status vergesellschaftet war. Je höher der Bildungsstatus der Eltern, desto höher die Teilnahmequote in Sportvereinen und desto niedriger der Anteil an Adipositas. Beachtenswerterweise war besonders bei Mädchen der Zusammenhang von außerschulischen Sportaktivitäten und Normalgewichtigkeit signifikant. Ein möglicher Punkt, an dem Präventionsmaßnahmen ansetzen könnten – mit Projekten, die es jugendlichen Mädchen in größerem Ausmaß erlauben, in Sportvereinen tätig zu werden und in außerschulische Sportaktivitäten zu intensivieren. Unter diesen Aspekten ist auch das städtische Sportangebot zu betrachten. Gibt es ausreichend Einrichtungen für jene Sportarten, die von Mädchen bevorzugt ausgeführt werden? Eine Untersuchung in Portugal stellt hier deutliche Unterschiede fest, während die Sportangebote für männlich dominierte und von Buben bevorzugte Sportarten groß und vielfältig sind, zeigt sich das Angebot für Mädchen in Anzahl der Sportarten und in Anzahl der Sportstätten deutlich vermindert. Während Mädchen häufiger Tennis, Volleyball, rhythmische Gymnastik, Tanzen und Ballett als Lieblingssportarten nannten, gaben Buben an, an Kontaktsportarten und Teamsportarten interessiert zu sein.
Um die Kluft zwischen Bedarf und Angebot zu überbrücken und bei der Planung von Sportstätten sowie bei der Subvention von Sportvereinen gendergerecht vorzugehen, sind völlig neue Ansätze notwendig. Die Geschlechtsunterschiede über das biologische Maß hinaus – auch unter Berücksichtigung der sozioökonomischen und kulturellen Geschlechterrollen und Rollenbilder – zu identifizieren, sollte Grundlage für künftige Präventionsprojekte sein.

Zusammenfassung

Die weltweit beobachtete Zunahme von Übergewicht und Adipositas mit weitreichenden Folgen für Gesundheitsstatus und Lebenserwartung benötigt effektive Präventionsmaßnahmen. Das Erkennen und Verstehen von Geschlechtsunterschieden in der Entstehung von Adipositas ist essenziell, um in Präventionsstrategien berücksichtigt zu werden und in Präventionsprojekten abgebildet zu werden. Nur durch gezielte und treffgenaue Programme zur Vermeidung von kindlicher und jugendlicher Adipositas kann dieser besorgniserregenden weltweiten Entwicklung entgegnet werden.


Literatur bei der Verfasserin


 

KOMMENTAR | PatientInnen-relevante Parameter
Univ.-Prof.in Dr.in Alexandra Kautzky-Willer
Gender Medicine Unit, MedUniWien & VAMED
Genderinstitut la pura, Gars am Kamp
Übergewicht nimmt auch in Österreich bei Kindern zu, wobei Buben stärker betroffen sind. Interessanterweise entwickeln aber mehr Mädchen als Buben einen Typ-2-Diabetes, wobei in Österreich immer noch eine niedrige Inzidenz im Kindesalter besteht und Jugendliche erst in der Pubertät betroffen sind, wo Mädchen eine deutlichere Insulinresistenz aufweisen. Anschließend ändert sich das Geschlechterverhältnis, und das männliche Geschlecht ist dann mit einem höheren Risiko für Typ-2-Diabetes konfrontiert. Beim Typ-1-Diabetes ist das Geschlechterverhältnis relativ ausgeglichen, Männer sind aber insgesamt häufiger betroffen, was für eine Autoimmunerkrankung sehr ungewöhnlich ist. Allerdings erleiden Mädchen öfter eine schwere Ketoazidose bei Erstmanifestation. Außerdem verlieren Frauen mehr Lebensjahre als Männer, wenn der Diabetes vor dem 10. Lebensjahr entdeckt wird. Mit der Pubertät und dem Anstieg der Sexualhormone werden biologische Geschlechterunterschiede im Glukose- und Fettstoffwechsel und der Fettverteilung deutlich. Gleichzeitig werden aber auch der gesellschaftliche Einfluss, Erwartungshaltungen und soziokulturelle Faktoren stärker wirksam. Durch fetale Programmierung wird der Stoffwechsel der Nachkommen bereits im Mutterleib geprägt. Bei Gestationsdiabetes werden bereits intrauterin unterschiedliche Wachstumsstrategien bei Mädchen und Buben sichtbar, wobei sich, abhängig vom Trimenon, der Zusammenhang zwischen mütterlichen Stoffwechselparametern und der Fettmasse weiblicher und männlicher Neugeborener stark unterscheidet. Eine Mangelernährung im Mutterleib ist mit einem höheren Risiko für Typ-2-Diabetes im späteren Leben assoziiert, was bei Männern eine stärkere Auswirkung hat.

© Medizinische Universität Wien/Felicitas Matern