Geschlechtsunterschiede in Klinik, Diagnose und Therapie von Alzheimer Gender & Alzheimer

Die Alzheimer-Demenz ist die Hauptursache für Demenz bei älteren Menschen. Die Krankheit manifestiert sich zunächst als subtile Störung des Gedächtnisses und der Kognition (ein Stadium, das als milde kognitive Beeinträchtigung, MCI, bezeichnet wird), die sich im Laufe einiger Jahre verschlimmern und schließlich zum Verlust der Unabhängigkeit und zu einer offenen Demenz ­führen. Gegenwärtig gibt es keine kausale Behandlungsmöglichkeiten für Alzheimer – die eingesetzten Medikamente wirken ­lediglich symptomatisch.
Die hohe Heterogenität in der klinischen Präsentation der Patienten ist ein limitierender Faktor, der die Diagnose der Alzheimer-Demenz – und damit die Prognose – erheblich erschwert. In diesem Zusammenhang kann die Kenntnis und Umsetzung von Geschlechts- und Gender-Unterschieden bei Alzheimer dazu beitragen, das individuelle Risikoprofil der Patienten zu charakterisieren und abzuschwächen sowie diagnostische und therapeutische Ansätze zu optimieren.
Die Guidelines der American Heart Association zur Schlaganfallprävention sind ein Beispiel einer erfolgreichen Implementierung von Geschlechtsunterschieden in offizielle Richtlinien.1 Im Gegensatz dazu steckt die Untersuchung von Geschlechtsunterschieden bei Alzheimer noch in den Kinderschuhen, und offizielle geschlechtsspezifische Richtlinien für die klinische Behandlung von Alzheimer sind noch nicht verfügbar. Auf der Grundlage der vorliegenden Evidenz sollten von Ärzten jedoch bei Verdacht auf AD und MCI aufgrund von AD eine Reihe wichtiger Aspekte angesprochen und berücksichtigt werden.2
Internisten und Hausärzte spielen eine zentrale Rolle, da ihre Erstbeurteilung eine weitere Triage für geeignete Tests ermöglicht und sie die Nach- und die allgemeine Versorgung von Patienten leiten, die von der Alzheimer-Krankheit oft stark beeinträchtigt sind. Daher bieten die geschlechtsspezifischen Unterschiede in den Pathophänotypen von Alzheimer-Patienten eine bedeutende Hilfe bei der Orientierung von Ärzten außerhalb von Gedächtnisambulanzen.

Einfluss auf die Diagnose

Kognitive Symptome: Frauen neigen dazu, Männer in verbalen Gedächtnistests zu übertreffen, während Männer bei den visuell-räumlichen Fähigkeiten höhere Punktezahlen als Frauen erreichen. Der weibliche Vorteil beim verbalen Gedächtnis bleibt auch im Stadium der leichten kognitiven Beeinträchtigung (MCI) erhalten3, trotz ähnlicher Hirnschäden. Ein früher, subtiler kognitiver Schaden kann daher bei Frauen bei der Anwendung neuropsychologischer Standardtests, die stark auf das verbale Gedächtnis angewiesen sind, übersehen warden.4 Eine frühe und präzise klinische Diagnose bei Frauen erfordert daher eine sorgfältige Untersuchung verschiedener Bereiche, solange es keine geschlechtsangepassten Referenzbereiche gibt.

Biomarker: Die klinische Diagnose bei Verdacht auf eine Alzheimer-Demenz kann durch flüssige und/oder bildgebende Biomarker unterstützt werden, die auf pathologische Merkmale der Krankheit hinweisen (meist Amyloid-Beta-Peptid und abnormal phosphoryliertes Tau). Mehrere neuere Studien haben Geschlechtsunterschiede im Akkumulationsmuster von Amyloid- und Tau-Proteinen und deren Zusammenhang mit der Kognition dokumentiert. Frauen scheinen bei gleicher Amyloidmenge mehr Tau in den Schläfenregionen zu akkumulieren5; bei ähnlicher Amyloidose im Gehirn progressiert die Demenz bei Frauen schneller.6 Diese Ergebnisse deuten darauf hin, dass geschlechtsangepasste Schwellenwerte für die Bildgebung und Liquor-Biomarker erforderlich sein könnten, um eine präzise Diagnose bei Frauen und Männern zu gewährleisten.

Einfluss auf die Diagnose

Progression: Mehrere Berichte haben gezeigt, dass Frauen mit MCI schneller (bis doppelt so schnell) einen kognitiven Rückgang aufweisen als Männer.7 Wichtig ist, dass dieser Geschlechtsunterschied nur bei biomarkerpositiven Personen auftritt, was auf ein pathologiespezifisches Phänomen hinweist.8 Da bei Frauen eine schnellere Progression nach der MCI/AD-Diagnose zu erwarten ist, stellen die frühzeitige Prüfung ihrer Biomarker und die Berücksichtigung ihres erhöhten Risikos ein entscheidendes Element dar, das bei der Planung von Behandlung und häuslichen Vorkehrungen zu berücksichtigen ist.

Andere Symptome: Auch die neuropsychiatrischen Symptome variieren je nach Geschlecht, wobei Frauen häufiger an Depressionen und psychotischen Zügen leiden.9 Männer manifestieren sich dagegen häufiger mit aggressivem Verhalten. Das Auftreten unterschiedlicher psychiatrischer Symptome erfordert interdisziplinäre und Ad-hoc-Pläne zur Krankheitsbewältigung in Absprache mit den Betreuern.

Behandlung: Es liegen nur sehr wenige Informationen über ­geschlechtsspezifische Unterschiede in Bezug auf Sicherheit, Wirksamkeit und Compliance der derzeit verfügbaren symptomatischen Behandlung von Alzheimer vor. Eine kürzlich durchgeführte Metaanalyse von Cholinesterasehemmern und Memantin ergab, dass von 48 analysierten Studien keine Studie nach Geschlecht geschichtete Wirksamkeits- und Sicherheitsdaten enthielt.10
Sowohl bei Männern als auch bei Frauen wurde die Hormonersatztherapie in Beobachtungsstudien mit einem verringerten AD-Risiko in Verbindung gestellt. Aufgrund der signifikanten Diskrepanz zwischen den Ergebnissen von Beobachtungsstudien und randomisierten kontrollierten Studien gibt es jedoch keine definitive Aussage zum therapeutischen oder präventiven Wert der Hormonersatztherapie bei Alzheimer bei Männern und Frauen.11, 12

Klinische Studien: In klinischen Studien fehlt es immer noch an geschlechtsspezifischen Aspekten, was zu den vielen Wissenslücken über männliche und weibliche Unterschiede bei Alzheimer führt. Das biologische Geschlecht muss im Design klinischer Studien berücksichtigt werden. Besonders hilfreich wäre eine Stratifizierung in langsam und schnell fortschreitende Patienten („slow and fast progressors“). In einer kürzlich durchgeführten Pilotstudie wurde festgestellt, dass Frauen in klinischen Phase-III-Studien zu AD2 unterrepräsentiert sind, was auf die Notwendigkeit hindeuten könnte, die Rekrutierung und Bindung älterer Frauen an Studien zu überwachen und zu erhöhen.

Einfluss auf Behandlungsentscheidungen

Lebensstil-Faktoren: Die WHO hat vor Kurzem Leitlinien zur Verringerung des Demenzrisikos veröffentlicht, die sich mit Lebensstil-Interventionen, einschließlich Ernährung und Bewegung, befassen. Viele der identifizierten Risikofaktoren treten tendenziell häufiger bei einem Geschlecht als beim anderen auf – ein Element, das bei der Bewertung des individuellen Risikos zu berücksichtigen ist. Zum Beispiel ist Bewegungsmangel bei Frauen häufiger, während Nikotinkonsum bei Männern vorherrscht. Andererseits kann sich derselbe Risikofaktor bei Männern und Frauen unterschiedlich auswirken. Es wurde gezeigt, dass Rauchen, ­Dyslipidämie, Bluthochdruck in der ­Lebensmitte und Diabetes bei kognitiv gesunden Frauen zum MCI prädestiniert – nicht jedoch bei Männern. In dieser Studie der Mayo Clinic Study of Aging waren Adipositas und der Status „nie verheiratet“/„verwitwet“ signifikante Prädiktoren für Männer.13

Genetische Risikofaktoren: Der wichtigste genetische Risikofaktor für AD ist das APOE*ε4-Allel; interessanterweise wiesen weibliche APOE*ε4-Träger im Vergleich zu männlichen Trägern ein höheres Risiko für MCI und AD auf. Dies war signifikant bei Personen jüngeren Alters (55–70 Jahre für MCI und 65–75 Jahre für AD).14 Wenn der APOE-Allelstatus zur Unterstützung der Diagnose untersucht wird, sollten Geschlecht und Alter der Person bei der Bewertung und Diskussion des Risikos berücksichtigt werden.

Frauenspezifische Risikofaktoren: Eine frühe Menopause (vor dem 40. bis 45. Lebensjahr) zum Beispiel als Folge einer Ovarialentfernung, einer Chemotherapie, einer Behandlung mit Aromatasehemmern oder einer vorzeitigen Ovarialinsuffizienz wurde immer wieder mit einem ­erhöhten Risiko für kognitive Verschlechterung und Demenz in Verbindung gebracht15 und sollte mit den Patientinnen besprochen werden. Kürzlich wurde Migräne in einer großen britischen Studie als ein spezifischer Risikofaktor für Alzheimer bei Frauen identifiziert. Darüber hinaus sollten mehrere mutmaßlich frauenspezifische Risikofaktoren, darunter auch schwangerschaftsbedingte hypertone Störungen wie Präeklampsie, ­genau beobachtet werden.16

Männerspezifische Risikofaktoren: Eine Reihe neuerer Studien hat den Zusammenhang zwischen hormonellen Veränderungen und dem männerspezifischen Demenzrisiko hervorgehoben. Eine Therapie mit Androgenentzug im Zusammenhang mit Prostatakrebs war über einen Nachbeobachtungszeitraum von 10 Jahren durchweg mit einem erhöhten Alzheimer-Risiko verbunden.17 Solche Therapien und ihre Risiken für die Kognition sollten mit jedem männlichen Patienten diskutiert werden.

Schlussfolgerungen

Die Berücksichtigung von geschlechtsspezifischen Unterschieden kann dazu beitragen, die Diagnose- und Prognoseinstrumente für Alzheimer zu verbessern und das klinische Management der Patienten von der Prävention bis zur Behandlung zu optimieren.

 

Literatur:1 Bushnell C et al., Stroke 2014; 45:1545–1588 2 Ferretti MT et al., Eur J Neurol 2020; DOI: 10.1111/ene.141743 Sundermann EE et al, Neurology 2016; 86:1368–13764 Sundermann EE et al, Neurology 2019; 93 e1881–e1889 5 Buckley RF et al., JAMA Neurol 2019; 76:542–5516 Buckley RF et al., Alzheimers Dement 2018; 14:1193–12037 Lin KA et al., Alzheimers Dement (NY) 2015; 1:103–1108 Sohn D et al., Sci Rep 2018; 8:74909 Hollingworth P et al., J Am Geriatr Soc 2006; 54:1348–135410 Canevelli M et al., Pharmacol Res 2017; 115:218–22311 Buskbjerg CR et al., J Endocr Soc 2019; 3:1465–148412 Pertesi S et al., Post Reprod Health 2019; 25:200–20613 Pankratz VS et al., Neurology 2015; 84:1433–144214 Neu SC et al., JAMA Neurol 2017; 74:1178–118915 Bove R et al., Neurology 2014; 82:222–22916 Kostev K et al., J Alzheimers Dis 2019; 71:353–36017 Jayadevappa R et al., JAMA Netw Open 2019; 2:e196562