Indikationsgespräch Diabetesmanagement

Ärzte Krone: Welche Entwicklungen haben die vergangenen Jahre der Diabetestherapie wesentlich geprägt?

Heidemarie Abrahamian: Wir haben derzeit eine Reihe von Medikamenten zur Verfügung, mit denen Patienten sehr gut eingestellt werden können. Lange Zeit waren in der oralen Therapie Hypoglykämien und die Gewichtszunahme limitierende Faktoren, das ist aber vorbei. Die Therapieziele, auch den HbA1c-Wert, legt der behandelnde Arzt in Absprache mit dem Patienten fest. Dabei berücksichtigt er dessen individuelle Bedürfnisse, den Lebensstil, Besonderheiten der Therapie und mögliche Begleit- oder Folgeerkrankungen. Bisher lag der Wert bei 6,5 Prozent, mit den modernen Arzneimitteln könnten wir durchaus 6,0 anpeilen. Diabetiker haben ein deutlich erhöhtes Risiko für kardiovaskuläre Ereignisse, daher hat auch die Forderung der US-amerikanischen Arzneimittelbehörde FDA, bei neuen Medikamenten sehr früh kardiovaskuläre Sicherheitsstudien durchzuführen, Vorteile in der Behandlung gebracht. Unterschiedliche Sensoren – auf der Haut oder implantiert – zur Erfassung von Glukosemesswerten haben das Diabetesmanagement deutlich leichter gemacht. Hier gibt es sicher noch enormes Entwicklungspotenzial. Wesentlich war für mich auch, dass die American Diabetes Association dafür plädiert, psychosoziale Aspekte bei der Therapie zu berücksichtigen und dass dafür auch eine Struktur vorgegeben wird. Ich denke, dass diese Vorgangsweise die Adhärenz wesentlich verbessert, aber auch auf viele Faktoren der Lebensqualität einen großen Einfluss hat. Wir stellen jetzt endlich den Patienten in den Mittelpunkt der Therapie und nicht die Krankheit.

Peter Fasching: Vor zehn Jahren gab es in Österreich zur Diabetestherapie eine limitierte Zahl zugelassener Wirkstoffe, das waren im Wesentlichen Metformin, Sulfonylharnstoffe, Glitazone und Insulin. Mit Letzterem haben sich die niedergelassenen Allgemeinmediziner nicht so gerne beschäftigt. Rund 450.000 betroffene Typ-2-Diabetiker werden derzeit zu etwa 90 % in der allgemeinmedizinischen Praxis behandelt, denn Spezialambulanzen sind meist nur in urbanen Settings vorhanden.

Ärzte Krone: Wo sehen Sie aktuell große Herausforderungen?

Fasching: Moderne Medikamentenklassen eröffnen jetzt dem behandelnden Arzt im extramuralen Bereich ganz neue Therapieoptionen. In den letzten Jahren haben wir drei neue Substanzklassen dazubekommen: DPP-4-Inhibitoren, GLP-1-Analoga und SGLT-2-Inhibitoren. Das freut zwar uns Diabetesexperten, Allgemeinmedizinern bereitet die große Auswahl aber wohl noch mehr Kopfzerbrechen. Mein Tipp dazu: Suchen Sie sich aus den vielen Substanzklassen auf Basis wissenschaftlicher Evidenz einige heraus und lernen Sie mehr darüber im Detail. Alle zugelassenen sind natürlich sehr gut, aber bei denen, die man verschreibt, sollte man sich auch sehr gut auskennen, vor allem im Hinblick auf etwaige Einschränkungen und Nebenwirkungen. Komplexe Verschreibungen werden beim Allgemeinmediziner ohnehin nur fortgeführt, wenn die Patienten nach einem Spitalsaufenthalt oder vom Facharzt kommen. Grundsätzlich ist Österreich in der guten Lage, dass im extramuralen Bereich die oralen Antidiabetika im Status der Gelben Box einfach verschreibbar sind.

Florian Kiefer: Durch die zunehmende Zahl an antidiabetischen Therapien müssen wir sehr genau überlegen, welche Patienten womit therapiert werden. Komorbiditäten werden immer wichtiger. Wir haben jetzt Substanzen, mit denen unter Mono- oder Kombinationstherapie ein deutlich niedrigeres Risiko von Hypoglykämien besteht. Das ist Chance und Herausforderung gleichermaßen: Orale Präparate sind gut kombinierbar und können Patienten länger insulinfrei halten oder den Insulinbedarf senken. Auf der anderen Seite ist aufgrund des immer größer werdenden Portfolios die Entscheidung, welches Arzneimittel in der nächsten Eskalationsstufe eingesetzt wird, nicht gerade einfacher geworden. Mit den neuen Präparaten gehen auch wieder andere Nebenwirkungen einher. Die Informationen, die man also benötigt, um eine State-of-the-Art-Diabetestherapie zu betreiben, sind deutlich mehr geworden.

Beate Hartinger-Klein: Das Gesundheitsministerium hat im März 2016 eine Diabetesstrategie in Auftrag gegeben, und in den Bundeszielsteuerungsverträgen haben wir Wirkungsziele und Handlungsempfehlungen definiert. Dort ist auch festgeschrieben, dass bei 6 Prozent der Betroffenen ihre Erkrankung überhaupt nicht oder zu spät erkannt wird. Diagnostiziert hingegen sind etwa 430.000 Menschen mit Diabetes mellitus Typ 2 – hier muss man ansetzen und hier spielt der Allgemeinmediziner als erste Anlaufstelle eine sehr zentrale Rolle. Disease-Management-Programme wie „Therapie aktiv“ fangen langsam zu greifen an; Vorzeigeprojekte wie der Gesundheitsdialog der Versicherungsanstalt für Eisenbahnen und Bergbau (VAEB) werden österreichweit ausgerollt. Dabei zeigt sich überall eines: Wir brauchen Daten als Grundlage, nur dann können wir gezielt Maßnahmen setzen. An der Klinischen Abteilung für Endokrinologie und Diabetologie am LKH Graz wurde zum Beispiel ein Diabetesregister für die Biomarkerforschung eingerichtet, das sehe ich momentan als wegweisende Entwicklung!

Ärzte Krone: Was braucht es in der allgemeinmedizinischen Praxis, um der hohen Dunkelziffer an Diabetespatienten entgegenzuwirken?

Kiefer: In erster Linie ist die Dunkelziffer hoch, weil viele Patienten nur unregelmäßig zum Arztbeziehungsweise zur Vorsorgeuntersuchung gehen. Es ist wichtig, auch bei unspezifischen Symptomen und insbesondere bei Adipositas auch schon in jüngeren Jahren an den Diabetes zu denken und die Diagnosekriterien heranzuziehen. Jeder sollte spätestens ab dem 45. Lebensjahr alle drei Jahre eine Nüchternplasmaglukose oder alternativ eine HbA1c-Messung erhalten.

Fasching: Ich sehe nicht so sehr die Schwierigkeit, die passenden Arzneimittel zu verschreiben, sondern den Patienten das gesamte Lifestylepaket schmackhaft zu machen. Da reicht ein Beratungstermin bei Weitem nicht aus, das erfordert engmaschige Kontrolle und viel Arbeit mit dem Patienten. Telemedizin hilft hier nur bedingt, denn da werden große Mengen an Daten generiert und häufig nicht strukturiert ausgewertet. Das Projekt der VAEB ist ein Proof of Concept, dass es technisch machbar ist, aber die Realität muss auch beim Patienten ankommen.

Abrahamian: Wir haben schon im Jahr 2000 im KH Lainz ein telemedizinisches Pilotprojekt gestartet und uns mit fünf Allgemeinmedizinern vernetzt. Die Erfahrung war, dass wir viel voneinander lernen und die Ärzte die Infrastruktur des Spitals nutzen konnten, denn die wenigsten haben ein interdisziplinäres Team vor Ort, mit dem die Lifestylethemen bearbeitet werden können. Das sind aber alles Posten, die über die Sozialversicherung nicht abgerechnet werden können, daher wird es in der Ordination in dem Umfang, wie eine Spezialambulanz arbeiten kann, auch nicht gemacht.

Fasching: Hier wären künftig Primärversorgungszentren vermutlich hilfreich, wenn die Finanzierungsstruktur passt.

Ärzte Krone: Wie können Fachärzte und niedergelassene Allgemeinmediziner optimal kooperieren?

Kiefer: Die fehlenden Strukturen und der Ärztemangel werden sich gerade bei der Versorgung chronisch Kranker ganz dramatisch auswirken, hier gibt es noch keine Rezepte dafür. Eine Zusammenarbeit wird regional unterschiedlich aussehen, vor allem in urbanen Zentren ist die Vernetzung von Allgemeinmedizinern über den Facharzt zur Spitalsambulanz viel einfacher zu organisieren als in der Peripherie. Konzepte sind vorhanden, wie die Primär-, Sekundär- und Tertiärreferenzzentren, aber das wurde bisher nie in die Praxis umgesetzt. Sinnvoll ist es natürlich auch, wenn die Datenbasis mit dem Patienten mitwandern kann und nicht jede Anlaufstelle wieder von vorne mit der Datenerhebung beginnen muss.

Ärzte Krone: Kann eine Aut-idem-Regelung in Krankenanstalten nützlich sein?

Fasching: Für chronisch Kranke ist es ein wichtiger Teil der Adheränz, dass sie „ihre“ Medikamente kennen beziehungsweise erkennen. Ich denke nicht, dass hier eine Aut-idem-Regelung hilfreich ist, zumal Spitalsärzte ein Medikament und keinen Wirkstoff verschreiben müssen. Zudem werden Spitalsapotheken immer auch nach deren eigenen ökonomischen Rahmenbedingungen auf Verschreibungen Einfluss nehmen, die in der Niederlassung ganz anders aussehen können. Elga würde mit der E-Medikation vorsehen, die Medikamentengeschichte eines Patienten zu erfassen, aber hier sprechen wir über ungelegte Eier.

Abrahamian: Die Kommunikation zwischen dem extramuralen und intramuralen Sektor ist derzeit viel zu ungenau und wir müssten die persönliche Zusammenarbeit intensivieren.

Ärzte Krone: Welche positiven Entwicklungen sehen Sie?

Abrahamian: Makrovaskuläre Spätschäden oder Nierenversagen haben deutlich abgenommen. Das hängt damit zusammen, dass Risikofaktoren früher und sehr konsequent einem Monitoring unterzogen werden.

Fasching: Die Betreuung in den niedergelassenen Praxen ist besser als ihr Ruf. Wir haben natürlich in den Ambulanzen auch oft eine Negativauslese und sehen daher die vielen Patienten mit positiven Entwicklungen, die von Hausärzten bewegt werden, nur selten bei uns. Auch in der Ambulanz ist nicht jeder Patient optimal führbar. Unser Ziel – egal ob im Spital oder in der Ordination – muss es sein, jeden Patienten auf seinen individuellen „Best-of-HbA1c-Wert“ zu bekommen. Auch die Führung von Menschen mit Sprach- und Kulturbarrieren ist eine zunehmende Herausforderung geworden, für die wir uns in den nächsten Jahren Lösungen überlegen müssen.

Kiefer: Ganz allgemein hat das Interesse für das Thema in den vergangenen Jahren deutlich zugenommen. Das liegt zum Großteil auch an den neuen Substanzen und den erfreulichen Studien-ergebnissen zur Reduktion des kardiovaskulären Risikos. Viele dieser Endpunktstudien kamen in den letzten Jahren aus dem Diabetesbereich.

Abrahamian: Wir müssen den Patienten und seine Erwartungen mehr ins Zentrum rücken und mehr zuhören. Ein Therapieadhärenzproblem ist unter anderem auch ein vom Arzt mitverursachtes Kommunikationsproblem.