Kompass in der Informationsflut

Nach Empfehlungen unter anderem von FPÖ-Chef Herbert Kickl für das Anti-Wurm-Mittel Ivermectin gegen COVID-19 ist die Nachfrage sprunghaft angestiegen. Und das, obwohl sich der Hersteller, die Firma MSD (Merck Sharp & Dohme), klar gegen die Einnahme von Ivermectin (Stromectol®) bei COVID-19 ausgesprochen hat und die Europäische Arzneimittelagentur EMA und die heimische AGES bereits im Frühjahr davor gewarnt haben, dass das Mittel bei einer Überdosierung toxisch sein kann. Auch in Österreich soll es bereits Vergiftungen und Todesfälle gegeben haben.
In einem anderen Fall hat ein Steirer als vermeintlichen Schutz vor einem schweren Verlauf seiner Coronavirus-Infektion Unmengen von hochkonzentriertem Vitamin D zu sich genommen. Er landete schließlich mit einem akuten Nierenversagen im Spital, berichteten steirische Medien. Nicht immer sind Mythen über vermeintliche Therapiealternativen aber so eindeutig. Bereits im Vorjahr stritten etwa auch Mediziner und Wissenschafter, ob im Frühstadium einer COVID-19-Erkrankung das inhalative Kortikosteroid (ICS) Budesonid sinnvoll ist oder nicht. Kurzzeitig waren deshalb Asthmasprays, die das Produkt enthalten haben, nahezu vergriffen. Befürworter beriefen sich auf eine Studie, die in der Fachzeitschrift The Lancet veröffentlicht worden war. Kritiker wiesen darauf hin, dass die Studie nur 146 Teilnehmer hatte. Lungenfachärzte warnten vor der Einnahme. Monate später die nächste Studie im Lancet: Für große Hoffnungen als COVID-19-Medikament besteht nun kein Grund mehr. Am ehesten könnte dadurch eine etwas schnellere Genesung erreicht werden. Die nunmehrige Auswertung basierte auf 2.530 SARS-CoV-2-Infizierten.

Viele Informationen – wo die Grenze, wo die Wahrheit?

Gerade in Sachen Corona überschlagen sich die Nachrichten über neue Therapien, und die Bandbreite reicht von durchaus denkbaren Konzepten bis zu unsinnigen.
Wie erkennt man allerdings die Grenze? Selbst bei Impfstoffen – und dem von vielen Ungeimpften sehnsüchtig erwarteten Impfstoff mit inaktivierten Viren – und möglichen oralen Medikamenten ist nicht alles so einfach, wie es in der Öffentlichkeit diskutiert wird.

Rekombinanter Proteinimpfstoff: Der US-Pharmakonzern Novavax hat für seinen Corona-Impfstoff nun eine Marktzulassung in der Europäischen Union beantragt. Es wäre der erste proteinbasierte Impfstoff gegen COVID-19, der zugelassen wird. In der entscheidenden Phase-III-Studie mit 30.000 Patienten zeigte das Vakzin eine Gesamtwirksamkeit von rund 90 Prozent, teilte der Hersteller mit.
Das Problem: Die EMA wird wohl noch bis Jahresende für eine Entscheidung brauchen. Zudem zog sich die angestrebte Zulassung in die Länge, da Novavax mit Produktionsproblemen zu kämpfen hatte. Ob nach einer Zulassung ausreichend Impfstoff geliefert werden kann, ist also offen.
Das österreichisch-französische Unternehmen Valneva, das ebenfalls an einem Impfstoff mit inaktivierten Viren arbeitet und diesen zur Zulassung eingereicht hat, teilte zuletzt mit, dass man frühestens im April 2022 ausliefern könne.

5 Tipps, um sich Orientierung zu verschaffen

Priv.-Doz. Dr. Claudia Wild, Geschäftsführerin des Austrian Institute for Health Technology Assessment, empfiehlt grundsätzlich bei Erfolgsmeldungen ein „gesundes Hinterfragen und kritisches Bewusstsein“, und sie gibt im Ärzte Krone-Gespräch fünf Tipps, mit denen sich auch Ärzte rasch Orientierung verschaffen können. Gerade auch im Hinblick auf Erfolgsnachrichten zu neuen COVID-19-Therapien (siehe Seite 6) ergibt es Sinn, diese zumindest einmal grob einordnen zu können. Wild gibt zudem Ratschläge, welche Hilfen Ärzte ihren Patienten geben können, die ob der Informationsflut – wie im Fall von Corona oder auch ganz generell bei Therapienachrichten – verunsichert sind.

Tipp 1: Quellen hinterfragen: „Hinterfragen Sie jegliche Information auf die dahinterliegende Interessenlage“, rät Wild. „Wer ist Gewinner bei einer weiteren Verbreitung der neuen Leistung oder Therapie?“ Voraussetzung für kritisches Hinterfragen ist, dass man nicht selbst auch Geschäftsinteressen hat, Zusatzangebote für medizinische Leistungen anzubieten, die wenig oder keine Evidenzbasis haben. Prospekte allein seien jedenfalls keine glaubwürdige Quelle für Informationen.

Tipp 2: Nach wissenschaftlichen Nachweisen fragen und/oder suchen sowie Hinterfragen, an welcher Patienten-Population eine Therapie eigentlich zugelassen wurde, „respektive, welche Patienten explizit aus den Studien ausgeschlossen wurden“. Informationen zu den Zulassungsstudien für Medikamente finde man im EPAR (European Public Assessment Report) der Zulassungsbehörde EMA

Tipp 3: Nach Häufigkeit der Erprobung fragen: „Manche neue Interventionen werden als ‚innovativ‘ verkauft, sind aber oft ‚experimentell‘ und wenig erprobt. Es gibt also wenig Wissen unter Alltagsbedingungen.“ Erst der Vergleich zu herkömmlichen und etablierten Methoden lasse eine Schlussfolgerung zu, ob das neue tatsächlich mehr kann.

Tipp 4: Vertrauen in natürlichen Verlauf einer Krankheit: „Wesentlich ist aber, hier Grenzen zu sehen und zu kommunizieren. COVID-19 ist sicherlich keine Indikation für Hausmittel“, warnt die Expertin. „Bei anderen Erkrankungen kann man bei gesunden, immunstarken Menschen auch auf die Selbstheilungskräfte des eigenen Körpers und/oder Hausmittel setzen und damit auch gleichzeitig die Gesundheitskompetenz stärken, dass nicht immer gleich interveniert werden muss. Hier setzt die ärztliche Kompetenz durch eine qualifizierte Differenzialdiagnostik ein“, sagt Wild. Manchmal helfe es, herkömmliche Hausmittel und scheinbar banale Interventionen – wie Bewegung, Schlaf, Ernährung, soziale Kontakte pflegen – anzuregen und zu stärken.

Tipp 5: Unabhängige Quellen zur Unterstützung im Hinterfragen suchen: Medizinische Fachgesellschaften (S3-Leitlinien der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften), Cochrane Collaboration, HTA/EBM-Quellen suchen.

Tipps für Patienten

Grundsätzlich: Gesundes Hinterfragen und kritisches Bewusstsein bei „Erfolgsmeldungen“ oder „Heilsversprechen“ aus dem privaten Umfeld.

Hilfreiche Links
Quellen für Ärzte:
AWMF-S3-Leitlinien:
Quellen für Patienten:
Kritische Bewertungen von neuen Therapien findet man auf den Websites von EbM und HTA-Institutionen:
Zu Medizinprodukten:

Meldungen über COVID-19-Medikamente

Die europäische Arzneimittelbehörde EMA untersucht derzeit gleich mehrere COVID-19-Medikamente – darunter auch orale Produkte. Berichte über Erfolgsaussichten und Studiendaten sind unterschiedlich. In den meisten Fällen geht es um Notfallzulassungen.

1. Die Hersteller GlaxoSmithKline und Vir Biotechnology haben einen Antrag auf Zulassung eines monoklonalen Antikörpers gestellt, mit dem Erwachsene und Jugendliche behandelt werden könnten, um eine schwere Erkrankung nach einer Corona-Infektion zu verhindern. Eine Entscheidung wird hier in zwei Monaten erwartet.
Die USA haben sich für rund eine Milliarde Dollar bereits Dosen des COVID-19-Medikaments gesichert. In klinischen Studien hat die Antikörpertherapie das Risiko einer Krankenhauseinweisung oder eines Todesfalls bei Erwachsenen mit leichtem bis mittelschwerem COVID-19 um 79 Prozent verringert. In Europa hat die Arzneimittelbehörde EMA grünes Licht für die Verwendung in den Mitgliedstaaten gegeben, obwohl die EU-weite Zulassung noch aussteht.

2. Ebenfalls einen Antrag für ein orales Medikament hat Pfizer gestellt. Nach Unternehmensangaben reduziert der Wirkstoffkandidat PF-07321332 (Paxlovid®) die Zahl der Krankenhauseinweisungen wegen COVID-19 oder eines Todes um 89 Prozent. Die Daten stammen aus einer Zwischenanalyse der seit einigen Wochen laufenden Phase-II/III-Studie EPIC-HR (Evaluation of Protease Inhibition for COVID-19 in High-Risk Patients). Die Zahlen basieren auf einer klinischen Studie mit mehr als 1.200 Erwachsenen. Pfizer-Chef Albert Bourla sprach von einer „bahnbrechenden Entwicklung“ im Kampf gegen die Corona-Pandemie. Die gleichzeitige Anwendung des Wirkstoffes mit einer niedrigen Dosis des HIV-Proteaseinhibitors Ritonavir als Booster im Medikament Paxlovid helfe, den Abbau von PF-07321332 zu verlangsamen, sodass es bei höheren Konzentrationen für längere Zeit im Körper aktiv bleibt.

3. Die britische Arzneimittelbehörde hat bereits grünes Licht für das Medikament Molnupiravir des US-Pharmariesen Merck & Co (MSD) zur Behandlung von leicht bis mittelschwer erkrankten COVID-19-Patienten mit Risikofaktoren wie Diabetes, Fettleibigkeit oder Herzkrankheiten sowie bei älteren Personen ab 60 Jahren gegeben. Molnupiravir soll die Fähigkeit des Virus verringern, sich in den Körperzellen zu vermehren. Das Medikament wirkt offenbar so gut, dass die letzte klinische Studie, die Phase III, vorzeitig beendet werden konnte.

4. Ein Antikörpermedikament von AstraZeneca soll sich ebenfalls als effektiv bei der Vorbeugung von COVID-19 erwiesen haben. In der klinischen Studie, in der die Teilnehmer im Mittel sechs Monate lang beobachtet wurden, verringerte das Mittel demnach das Risiko einer symptomatischen Erkrankung um 83 Prozent, teilte das Unternehmen mit. Eine separate Studie an Patienten mit leichter bis mittelschwerer COVID-19-Erkrankung zeigte zudem, dass eine höhere Dosis des Medikaments das Risiko einer Verschlechterung der Symptome um 88 Prozent senkte, wenn sie innerhalb von drei Tagen nach Auftreten der ersten Symptome verabreicht wurde.