Leitlinien für sexuell übertragbare Erkrankungen

Leitlinien sind systematisch entwickelte, wissenschaftlich begründete und praxisorientierte Empfehlungen für die angemessene ärztliche Vorgehensweise bei speziellen medizinischen Problemen (Woolf SH et al., BMJ 1999; 318:527–530). Wissen aus unterschiedlichen Quellen wird zusammengetragen und gewertet, unterschiedliche Standpunkte und besondere situative Erfordernisse werden berücksichtigt. Aufgrund eines Konsensus mehrerer Experten werden Leitlinien gemäß dem aktuellen Stand der Wissenschaft erstellt. Sie bedürfen regelmäßiger Überprüfung auf ihre Aktualität. Vorrangiges Ziel von Leitlinien ist die Verbesserung der Qualität medizinischer Versorgung. Sie sollen wissenschaftliche Evidenz und Praxiserfahrung zu speziellen Versorgungsproblemen darlegen und das derzeitige Vorgehen der Wahl definieren.
Definitionsgemäß stellen Leitlinien lediglich Entscheidungshilfen dar, sie entbinden nicht von der Überprüfung ihrer individuellen Anwendbarkeit im Einzelfall. Leitlinien sind rechtlich nicht bindend, wodurch sie sich von Richtlinien unterscheiden. Die Anwendbarkeit einer bestimmten Empfehlung in der individuellen Situation ist unter Berücksichtigung der vorliegenden Gegebenheiten (z.B. Begleiterkrankungen des Patienten, verfügbare Ressourcen etc.) zu prüfen. In begründeten Fällen kann und muss von ihnen abgewichen werden. Nach wie vor sollte sich ärztliches Handeln primär am Patienten orientieren.

STD-Guidelines

Überregionale Institutionen wie Centers for Disease Control and Prevention (CDC) oder die Weltgesundheitsorganisation (WHO) publizieren mehr oder weniger regelmäßig überarbeitete Guidelines zur Therapie der sexuell übertragbaren Erkrankungen, welche weltweit als Grundlage für nationale Leitlinien herangezogen werden. Regionale Unterschiede bezüglich Prävalenz verschiedener Infektionen, diagnostischer Ressourcen, Resistenzmuster der Erreger und therapeutischer Möglichkeiten dürfen dabei nicht außer Acht gelassen werden.

Das Protokoll der Entwicklung der STD-Guidelines des European Branch der International Union against Sexually Transmitted Infections (IUSTI Europe) ist auf der Website www.iusti.org abrufbar. Anhand dieser Unterlagen kann nachvollzogen werden, wie die Erstellung von fundierten Leitlinien erfolgen sollte:

Nach der Initiierung der Neuerstellung bzw. Überarbeitung einer Leitlinie werden vom Chefeditor zwei bis drei Autoren mit entsprechender Expertise aus unterschiedlichen europäischen Ländern sowie weitere Editoren ausgewählt. Im Anschluss daran erfolgt der systematische Literatur-Review: MEDLINE, EMBASE, Cochrane-Library sowie die entsprechenden CDC-Guidelines und die Guidelines der British Association for Sexual Health and HIV (BASHH) werden herangezogen.
Das Format der Leitlinien wird als präzise und knapp definiert und sollte weder einem Review-Artikel noch einer Monographie entsprechen.

Der „Level of Evidence“ wird für die einzelnen Empfehlungen überprüft und mit einem entsprechenden Schlüssel kenntlich gemacht. Die Evidenz reicht von einem Level von Ia, basierend auf der Metaanalyse von randomisierten Untersuchungen bis zu einem Evidenzlevel IV, dem lediglich Meinungen von Expertenkomitees oder klinische Erfahrungen von respektierten Autoritäten zugrunde liegen. Das Fehlen entsprechender Publikationen zwingt die Autoren mitunter, Empfehlungen mit Evidenzlevel IV auszusprechen. Entsprechende Kenntlichmachung für den Leser ist hier unerlässlich.

Dem „Grade of Recommendation“ liegt der „Level of Evidence“ zugrunde, er wird gemäß den Empfehlungen der Arbeitsgruppe „Grading of Recommendations Assessment, Development and Evaluation“ ermittelt und mit Buchstaben (A–C) gekennzeichnet.

Nun werden die Leitlinien zur Beratung vorgelegt. Sie werden für drei Monate auf die Website der IUSTI gestellt, dem STD Guidelines Editorial Board, dem IUSTI Europe Council und der STD Division von WHO Europe übermittelt sowie zwei externen Experten für eine unabhängige Meinung vorgelegt.

Zur Finalisierung erfolgt die Diskussion der Kommentare, es wird ein Konsensus über die finale Version hergestellt.
Die Publikation der Guidelines erfolgt auf den Websites der IUSTI und WHO sowie in diversen Journalen (International Journal of STD & AIDS, JEADV u.a.).

Die Beurteilung der Qualität internationaler Leitlinien kann durch „The Appraisal of Guidelines for Research and Evaluation“ erfolgen.

Pro und Kontra

Kritiker monieren, dass Leitlinien zu einer Einengung ärztlicher Handlungsspielräume führen könnten. Das wissenschaftliche Konsensverfahren bei der Erstellung von Leitlinien führt dazu, dass nur wenige der als relevant erachteten Behandlungsschritte in die Leitlinien aufgenommen werden. Der Publikationsbias, d.h. die statistisch verzerrte Darstellung wissenschaftlicher Ergebnisse infolge einer bevorzugten Veröffentlichung von Studien mit „positiven“ bzw. signifikanten Ergebnissen führt dazu, dass wichtige Forschungsergebnisse verfälscht werden, da z.B. negative Studien seltener veröffentlicht werden. Demgegenüber steht die Tatsache, dass Leitlinien der vermutlich einzige Weg sind, um sicherzustellen, dass der klinischen Versorgung die beste wissenschaftliche Evidenz und somit der bewusste, ausdrückliche und wohl überlegte Gebrauch der jeweils besten Informationen für Entscheidungen in der Versorgung eines individuellen Patienten zugrunde liegt.

Lebhafter Austausch auf der Website

Die Österreichische Gesellschaft für STD und dermatologische Mikrobiologie (ÖGSTD) erstellt und überarbeitet seit nunmehr 20 Jahren regelmäßig die Leitlinien zur Therapie der klassischen Geschlechtskrankheiten und Sexually Transmitted Infections. Diese Leitlinien wurden in Anlehnung an die internationalen Empfehlungen der WHO, der CDC sowie der europäischen Therapieempfehlungen der International Union against Sexually Transmitted Infections (IUSTI Europe) erarbeitet und sind den diagnostischen und therapeutischen Gegebenheiten in Österreich angepasst. Wesentliches Augenmerk wird darauf gelegt, Antibiotika und Chemotherapeutika anzuführen, deren Wirksamkeit ausreichend erprobt wurde und die in Österreich erhältlich sind.

Die Etablierung der ÖGSTD-Website stellt einen wichtigen Fortschritt für die Aktualität der Leitlinien dar. Einzelne Kapitel können unabhängig von anderen bearbeitet und dem Anwender online zur Verfügung gestellt werden, aufwändige Bearbeitungen zur Drucklegung entfallen. Dynamische Anpassungen der empfohlenen Therapie aufgrund eines geänderten Resistenzmusters von Erregern oder neuen Behandlungsoptionen werden so auf raschem Weg kommuniziert. Durch die Webpräsenz ergibt sich eine noch größere Verbreitung der Leitlinien sowie ein lebhafterer fachlicher Austausch – in Zeiten sich rasch ändernder epidemiologischer Situationen eine Conditio sine qua non.

Gute Leitlinien können bei bewusster und sinnvoller Anwendung eine wertvolle Unterstützung für den klinischen Alltag darstellen. Regionale Unterschiede dürfen dabei nicht ignoriert werden. Der individuelle Patient muss im Zentrum ärztlicher Sorgfalt und Zuwendung stehen.

 

Quelle: ÖGDV-Jahrestagung 2012, Linz